
Flatmate 70+
Junge Menschen in Großstädten verzweifeln oft bei der WG-Suche, ältere Menschen haben häufig noch ein Zimmer frei. Eine Initiative aus Berlin will beide Gruppen zusammenbringen. Unser Autor war bei einem WG-Casting dabei
Fünfter Stock in einem Mehrfamilienhaus in Berlin-Wilmersdorf. Johannes Preißler, 20, ist mit dem Aufzug hochgefahren. Nur die letzten paar Stufen zur Dachgeschosswohnung geht er zu Fuß. Er ist nervös, wie er später erzählt, aber lässt sich nichts anmerken. Im Türrahmen steht ein älterer Herr und lächelt. Die beiden begrüßen sich mit einem Handschlag, „Johannes“, sagt Johannes.
„Und wie weiter?“, fragt der Mann, er sei schließlich einer, der noch siezt.
Matthias Reich, 71, und Johannes Preißler wären sich vermutlich ohne den Verein Sonay soziales Leben nie über den Weg gelaufen.
Die Organisation vermittelt seit Oktober 2024 Senior:innen, die ein freies Zimmer haben, und junge Menschen, die auf leidiger WG-Suche sind. Sechs Paare sind seither entstanden. Ob es matcht zwischen Jung und Alt, soll vorab ein WG-Casting zeigen, so wie jetzt bei Johannes.
Johannes und Herr Reich gehen in das Zimmer, in das Johannes einziehen soll, wenn es gut läuft. 25 Quadratmeter, 530 Euro warm. Dachschräge, drei Fenster, ein großer runder Holztisch, und in einem ansonsten leeren Bücherregal hockt ein kleiner Plüsch-Panda.

Könnte das ein Match sein? Matthias Reich und Johannes Preißler
Einrichten dürfe Johannes sich das Zimmer – natürlich – ganz wie er wolle. Nur der große runde Tisch, an den sie sich zum Kaffeekränzchen gesetzt haben, der soll bleiben. „Wie soll ich ihn auch in den Keller bekommen?“, sagt Herr Reich und gießt Kaffee in die rosafarbene Porzellantasse, die vor Johannes steht. „Wo wohnst du denn zurzeit?“ fragt er.
„In Berlin-Wedding. Quasi im Zimmer von einem Kumpel, der aktuell noch in Australien ist“, erzählt Johannes. Vor anderthalb Jahren ist er für sein Maschinenbau-Studium aus Bayern nach Berlin gezogen. Zur Zwischenmiete wohnte er auch schon in einer WG in Schöneberg. Und am Anfang musste er sogar mal kurz bei Freund:innen couchsurfen.
Knapp die Hälfte der Studierenden wohnt bei ihren Eltern
Wie ihm ergeht es vielen jungen Menschen, die in deutschen Großstädten – oft vergeblich – nach einer bezahlbaren Wohnung oder WG suchen. Vor allem Studierende sind betroffen. Laut der Shell Jugendstudie wohnt knapp die Hälfte der Student:innen unter 25 bei ihren Eltern. 2002 waren es nur 31 Prozent.
Für Johannes ist es keine Option, bei seinen Eltern zu wohnen. Er hat deshalb schon alles Mögliche versucht. Ebay-Kleinanzeigen, ImmoScout24, und natürlich unzählige Anfragen auf wg-gesucht. Einen Plan B zu der WG mit Herrn Reich hat Johannes nicht. Dabei kommt sein Freund schon in zwei Wochen aus Australien zurück.

Kaffee und viele Fragen: Was das angeht, ist es ein ganz normales WG-Casting
„Maschinenbau also“, sagt Herr Reich und mustert Johannes mit schelmischer Miene. „Dann weiß ich ja endlich mal, wer hier einen Dübel in die Wand kriegt.“
„Schön wär’s“, sagt Johannes. „Ich kann Ihnen bloß ausrechnen, mit wie viel Kraft der Dübel reingehen muss. Reinhauen kann ich ihn nicht.“ Die beiden lachen auf.
Bei einem WG-Casting geht es darum, sich kennenzulernen. Aber auch darum, auszuloten, ob Lebenskonzepte miteinander vereinbar sind. Also wird auch am runden Holztisch von Herrn Reich fleißig ausgelotet.
„Ich liebe Kochen“, sagt Johannes und schwärmt los. Vor allem thailändisches Essen habe es ihm angetan. Die Küche von Herrn Reich sei zwar klein, aber sein Heiligtum, der Reiskocher brauche auf jeden Fall einen Platz.
„Das kriegen wir hin“, sagt Herr Reich. Auch er hat Vorlieben: „Ich bin Flexitarier. Fleisch kommt mir eigentlich nicht ins Haus. Nur eine Sache muss dann doch mal sein: Ab und zu hole ich mir einen Döner.“
Ein Thema ist Herrn Reich besonders wichtig: Lautstärke. „Das gehört zu mir. Stille, Ruhe, bis hin ins Meditative. Damit müsste man leben können.“ Johannes nickt besonnen. Er möge die Ruhe auch. „Nur wenn ich dusche, mache ich gerne mal Musik auf einer kleinen Box an.“

Dass Johannes es bis hier hin geschafft hat, ist nicht selbstverständlich – auf zehn Zimmer kommen 400 bis 500 Anfragen
Katrin Kalinkus arbeitet für den Verein Sonay soziales Leben. Sie hat Johannes und Herrn Reich „gematcht“, wie sie sagt. „Weil sie beide angegeben haben, gerne auch mal alleine und eher von der ruhigen Sorte zu sein“, verrät sie später.
Der Verein betreut die Beteiligten bis zum Abschluss des Untermietvertrags. Für Kalinkus heißt das auch, sich durch eine Flut von Anfragen zu wälzen. „Im Schnitt haben wir zehn Zimmer im Angebot und 400 bis 500 junge Leute, die ein Zimmer suchen.“
Ein Viertel der Alleinlebenden über 65 leben auf mehr als 100 Quadratmetern
Die Idee der Mehr-Generationen-WG passt in die Zeit. Während junge Menschen in Großstädten häufig keine Bleibe finden, leben viele Senior:innen alleine in großen Wohnungen. Bundesweit wohnt mehr als ein Viertel der Alleinlebenden über 65 auf mehr als 100 Quadratmetern.
Die Wohnung von Herrn Reich misst 72 Quadratmeter. Schon dreimal hatte er jemanden zur Untermiete bei sich. Aber noch nie eine so junge Person wie Johannes. Dann las er kürzlich in der Zeitung von der Generationen-WG und war angefixt, weil einem hier bei der Suche nach einem Untermieter geholfen wird. „Aber ich wollte auch die Initiative unterstützen“, sagt Herr Reich. Junge Menschen bräuchten schließlich in vielen Fällen dringend eine Wohnung.
Ein letzter Schluck Kaffee. Es ist alles besprochen. Herr Reich begleitet Johannes noch zur Tür. „Hoffentlich bis bald“, sagt Johannes.
Kaum steht er unten vor der Haustür, sagt Johannes: „Für mich ist die Sache eigentlich schon klar. Ich will einziehen.“ Am Nachmittag trudelt bei Katrin Kalinkus dann die Nachricht von Herrn Reich ein. Auch er ist überzeugt. Schon in wenigen Wochen darf Johannes zu ihm ziehen. Und vielleicht bietet ihm Herr Reich dann ja auch bald das „Du“ an.
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