„Hört auf die Stimmen der Überlebenden“, steht auf dem Schild, das Fatima Gassama, 19, an diesem Montagmorgen Mitte März hochhält. Sie steht inmitten einer Gruppe von mehreren Hundert jungen Frauen und Männern, die in Banjul, der Hauptstadt Gambias, vor dem Parlament demonstrieren. Viele von ihnen tragen T-Shirts in leuchtendem Pink oder Orange. „Setzt geltendes Recht nicht außer Kraft“, steht darauf oder „Schützt Mädchen“.
Das Parlament diskutiert an diesem Tag darüber, ein Gesetz zurückzunehmen, das es bereits seit 2015 gibt: das Gesetz, das Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung (engl.: Female Genital Mutilation = FGM) schützt. Bei FGM werden die äußeren weiblichen Genitalien teilweise oder vollständig entfernt, obwohl das medizinisch nicht notwendig ist. Sollte das Gesetz tatsächlich aufgehoben werden, wäre Gambia der erste Staat, der ein einmal beschlossenes Verbot von FGM wieder rückgängig macht.
Die 22-jährige Yanjie Jobe, die mit Fatima Gassama protestiert, sagt: „Falls das Gesetz zurückgenommen wird, haben wir Angst um die jüngere Generation. Deswegen sind wir heute hier.“
Hüfthohe Metallabsperrungen trennen die Demonstrierenden, die das Gesetz behalten wollen, von denjenigen, die für seine Abschaffung sind: Ebenfalls mehrere Hundert junge Frauen und Männer, die Schilder hochheben: „Gambia ist nicht zu verkaufen“ oder „Beschneidung ist mein religiöses Recht“, steht darauf. Unter den Demonstrierenden – auch in den vordersten Reihen – sind viele junge Mädchen. Ob sie etwas dazu sagen wollen, warum sie hergekommen sind? Sie schütteln schüchtern den Kopf.
Um den Streit, der Gambia derzeit spaltet, zu verstehen, gibt es wohl kaum eine bessere Gelegenheit als den Tag dieser Parlamentsdebatte. So viel schon mal vorweg: Zu einer Entscheidung wird das Parlament an diesem Montag nicht kommen – dafür gibt es aber viele Beispiele, wie tief die Gräben zwischen den beiden Seiten sind.
Marina Thorpe ist eine von denen, die dafür kämpfen, das Verbot von FGM aufrechtzuerhalten. Die 29-Jährige arbeitet für die „PF Initiative“, eine Organisation, die sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzt. An diesem Tag hat sie sich durch die Menschenmassen vor dem Gebäude hindurchgekämpft und sitzt nun, weil sie keinen Platz mehr bekommen hat, eng gedrängt zwischen anderen Aktivist*innen auf dem Boden der Empore für Zuhörer*innen im Parlamentssaal. „Ich glaube, dass die Mädchen, die draußen für die Genitalverstümmelung demonstrieren, in einigen Jahren realisieren werden, was sie getan haben – und dann werden sie sich schämen“, ist Thorpe überzeugt. „Das größte Problem, das wir hier haben, ist Unwissenheit.“
FGM wird in 30 Ländern praktiziert. Derzeit sind weltweit mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen von den Folgen weiblicher Genitalverstümmelung betroffen, und jedes Jahr sind weitere drei Millionen Mädchen davon bedroht. In Gambia haben Schätzungen zufolge bis zu 73 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 FGM erlitten.
Die Genitalverstümmelung kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben, etwa chronische Schmerzen, Infektionen, Traumata, Komplikationen bei Geschlechtsverkehr und Geburt – und sie kann sogar zum Tod führen. Bei den Mädchen unter 14 Jahren sollen laut Zahlen von UNICEF 46 Prozent FGM erfahren haben. Die geringere Verbreitung unter den Jüngeren könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Verbot – das 2015 noch unter Gambias damaligem Diktator Yahya Jammeh verabschiedet wurde – zumindest teilweise wirksam ist.
Die Praxis der Genitalverstümmelung ist älter als der Islam. Weder im Koran noch in anderen islamischen Quellen wie den Hadithen gibt es Hinweise darauf, dass die weibliche Beschneidung vom Islam geboten wäre. Trotzdem sind viele Menschen im mehrheitlich muslimischen Gambia davon überzeugt, dass diese Praxis zu ihrer Religion gehöre. Die Religionsfreiheit ist ein wichtiges Argument für diejenigen, die ein Ende des Verbots erwirken wollen.
„Hinter der Forderung, das Gesetz zurückzunehmen, steht eine versteckte Agenda“, ist sich Thorpe sicher: „Wenn sie FGM wieder legalisieren, dann ist der nächste Schritt, auch Kinderehen wieder zu erlauben. Die Rücknahme des Gesetzes bringt noch mehr Mädchen und Frauen in Gefahr.“
Noch immer ist die Akzeptanz der gambischen Bevölkerung für FGM groß, aber Zahlen zeigen auch, dass die Gegner*innen der Praxis immer mehr werden: Im Jahr 2013 – zwei Jahre bevor das Gesetz eingeführt wurde – war nur ein Drittel der Frauen und Mädchen in Gambia für das Ende von FGM. Bei neueren Umfragen in den Jahren 2019 und 2020 lehnten 46 Prozent der weiblichen Befragten FGM ab – und 42 Prozent der befragten Jungen und Männer.
Es sind vor allem religiöse Hardliner, die sich gegen das Gesetz einsetzen. Einer der führenden Gegner ist Imam Abdoulie Fatty. Einst war er der religiöse Berater von Diktator Jammeh; er ist bekannt für seinen Hass gegenüber Homosexuellen und dafür, sich für das, was er als „weibliche Beschneidung“ bezeichnet, einzusetzen. Im Rahmen seiner Kampagne ruft er zu öffentlichen Massenbeschneidungen von Mädchen auf, um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Beobachter*innen vermuten, dass er sich durch diese Kampagne politischen Einfluss erhofft.
Im Parlament erscheint Imam Fatty komplett in Weiß gekleidet, sein Kopf ist bedeckt. Gemeinsam mit einer ganzen Reihe ähnlich traditionell islamisch angezogener Männer sitzt er auf den Zuschauerplätzen des Parlaments; einige von ihnen rezitieren vor Beginn der Sitzung Koransuren, die sie auf ihren Mobiltelefonen abgerufen haben. Sie wirken sichtlich nervös, das Thema scheint ihnen wichtig. „Wir sind hier, um uns für unseren Glauben starkzumachen, denn es geht um unseren Islam“, sagt Fatty. „Und wir sind hier, um uns für unsere Frauen starkzumachen, denn es sind unsere Mütter, unsere Schwestern, die sie ins Gefängnis stecken, ohne dass sie etwas Kriminelles getan hätten.“
In den neun Jahren, seitdem das Gesetz gegen FGM erlassen wurde, wurden nur zwei Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung in Gambia strafrechtlich verfolgt. Weil die Tradition noch immer stark in der Gesellschaft verwurzelt ist, kommt es kaum zu Anzeigen. Eine Verurteilung gab es bisher nur einmal; vergangenes Jahr im August, als drei Frauen wegen der Genitalverstümmelung von acht Babys vor die Wahl gestellt wurden: entweder ein Jahr ins Gefängnis gehen oder je 15.000 Dalasi (etwas mehr als 200 Euro) Strafe bezahlen. Fatty beglich damals das Bußgeld der Frauen – und begann die aktuelle Kampagne gegen das Verbot.
„Wir sind gegen FGM“, sagt Fatty. „Aber wir sind für die Beschneidung der Frau.“ Der Unterschied ist laut dem Imam, dass bei der korrekt ausgeführten Beschneidung – angeblich analog zur Entfernung der Vorhaut von Männern – nur ein kleiner Teil der Klitoris abgeschnitten würde.
Die Berichte der Überlebenden von FGM zeigen, wie traumatisch aber auch diese Vorgehensweise ist. Die Frauenrechtsaktivistin Fatou Baldeh, 40, wurde mit acht Jahren Opfer von FGM und leidet bis heute an den psychischen Folgen. Damals glaubte Baldeh, sie würde zu einer Party gehen – bis ihre Augen verbunden wurden, sie auf den Boden gedrückt wurde, Erwachsene ihre Beine auseinanderrissen. Ohne Medikamente und ohne Betäubungsmittel wurde sie verstümmelt. Erst viele Jahre später, als sie an ihrer Universität in Edinburgh eine Vorlesung zu FGM besuchte, wurde ihr klar, dass ihr Unrecht widerfahren war. Sie begann, sich akademisch mit dem Thema zu beschäftigen, 2018 kehrte sie nach Gambia zurück und gründete die Organisation „Women in Liberation and Leadership“, die sich für das Ende von schädlichen Traditionen wie FGM oder Kinderehen einsetzt.
Auch Baldeh ist bei der Debatte im Parlament dabei. Die Sitzung verfolgt sie mit besorgtem Gesicht. Die Diskussion unter den Abgeordneten ist aufgeregt. Von den 47 – zum größten Teil männlichen – Abgeordneten, die während der Debatte im Parlament sind, äußert sich nur einer für das Fortbestehen des Gesetzes: „Ich bin Vater, ich sehe, was meine Mädchen durchmachen müssen“, sagt Gibbi Mballow, Vertreter des Wahlkreises Lower Fulladu West. „Die Frauen Gambias haben genug gelitten.“
Alle anderen Abgeordneten, die sich zu Wort melden, sprechen sich dafür aus, das Verbot abzuschaffen. „Eine Sache möchte ich klarmachen“, so etwa Lamin Ceesay, der den Wahlkreis Kiang West vertritt: „Ich werde in diesem Parlament niemals für einen Beschluss stimmen, der meine Vorfahren kriminalisiert.“
42 Abgeordnete stimmen schließlich dafür, die Debatte in den zuständigen Ausschuss zu verlegen, nur 4 stimmen dafür, das Gesetz zu behalten, eine Person enthält sich. Fatou Baldeh, die Aktivistin und FGM-Überlebende, hat auch nach dem Ende der Sitzung noch Tränen in den Augen, sie reißt sich zusammen: „Es sind so viele Überlebende gekommen, aber all diese Männer interessiert das einfach nicht“, sagt sie. „Vor allem verstehe ich nicht, dass auch die jungen Politiker, die jungen Männer einfach so Entscheidungen über die Körper von Frauen treffen.“
Frühestens im Juni wird der Ausschuss eine Empfehlung an das Parlament geben, das dann die Entscheidung über den Fortbestand des Gesetzes treffen wird. Bis dahin gehen die Kampagnen auf beiden Seiten weiter. Für die Mädchen und Frauen in Gambia steht viel auf dem Spiel – aber auch für das kleine Land selbst: Wenn das Gesetz tatsächlich abgeschafft würde, wäre das ein Bruch mit internationalen Verträgen wie der Frauenrechtskonvention und der Kinderrechtskonvention. International könnte das eine Isolation Gambias bedeuten. Wie wahrscheinlich die Abschaffung des Gesetzes tatsächlich ist – darüber sind sich Beobachter*innen uneinig. Fatou Baldeh wird sich weiter für das Fortbestehen des Gesetzes einsetzen: „Allein dass das Verbot überhaupt diskutiert wird, richtet Schaden in unseren Communitys an“, sagt sie.