Bei Kasia sind gleich zwei Flaggen gehisst: Die eine zeigt den Regenbogen der LGBTQ+-Bewegung, die andere einen roten Blitz vor einem weißen Frauenprofil – das Zeichen der polnischen Frauenproteste. „Dass die hier hängen, ist eine Manifestation unseres Kampfes und ein Teil meiner aktivistischen Arbeit“, sagt die 44-jährige Yogalehrerin.
Seit einigen Jahren wächst in Polen eine neue Protestbewegung heran, die vor allem die Frauen in Massen auf die Straßen bringt. Der „Strajk Kobiet“ – auf Deutsch: Frauenprotest – bildete sich als Reaktion auf die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, das in Polen ohnehin zu einem der restriktivsten in Europa zählte. Ein Schwangerschaftsabbruch ist seitdem nur noch bei Lebensgefahr für die Mutter oder bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nach einer Vergewaltigung legal. Das kommt einem Verbot gleich. Auch eine unheilbare Erkrankung des Fötus ist kein Grund mehr für eine Abtreibung, entschied das polnische Verfassungsgericht im Oktober 2020. Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Regierungspartei PiS, verteidigte das Urteil. So könnten nicht überlebensfähige Kinder nach der Geburt wenigstens im katholischen Sinne „getauft und beerdigt“ werden.
Für Kasia war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In ihrem kleinen Dorf, Sztumska Wieś, etwa 60 Kilometer südöstlich von Danzig, gründete sie die Ortsgruppe „Sztumski Strajk Kobiet“, deren einziges Mitglied sie selbst ist. Denn auf dem Land findet die Politik der PiS-Partei bei vielen eher Unterstützung: die Einschränkung der Unabhängigkeit der Gerichte, die Polemik gegen die EU, die Gängelung der freien Presse, die Beschneidung von Frauenrechten. Das alte Vorurteil vom konservativen Dorfvolk, es bestätigte sich in Polen bei der Präsidentschaftswahl 2020.
Sie fühlt sich im Ort manchmal ausgestoßen, aber woanders leben möchte Kasia nicht
Zu Kasias Haus, etwas abseits des Dorfkerns, führt eine Straße mit Betonplatten, drum herum erstrecken sich Felder, Wiesen und Wald. Im Ort mit 500 Bewohnenden stelle sie immer wieder ungemütliche Fragen zur Politik, sagt Kasia, und werde dafür als „zu revolutionär“ abgestempelt. „Die Leute mögen mich zwar, aber sie halten mich auch auf Abstand.“ Der Wind rauscht in den Bäumen, als Kasia das ehemalige Bienenhotel und die Apfel- und Pflaumenbäume im Garten zeigt. „Auf den ersten Blick ist das wenig, aber in Wirklichkeit ist es ein Reichtum.“ Woanders leben möchte Kasia nicht, auch wenn sie sich im Ort zeitweise ausgestoßen fühle. Weil sie allein lebt, hört sie auch oft, dass sie sich endlich einen richtigen Kerl suchen soll. Darüber kann Kasia nur lachen. Zum Nägel-in-die-Wand-Hämmern braucht man keinen Mann.
Mit ihrem Kleinwagen fährt Kasia durch den dichten Wald, auf dem Rücksitz ein Blumenstrauß, Hafermilch und Kuchen – alles für ihre Oma Alina (96), deren Haus nicht weit entfernt liegt. Heute trifft sie dort auch ihre Mutter Wanda (66) und ihre Tochter Nadja (24): Vier Generationen nehmen bei Kaffee und Apfelkuchen am Wohnzimmertisch Platz und sprechen über die Rolle der Frau in Polen.
Den Anfang macht Oma Alina, die erzählt, dass sie als junge Frau viel Zeit in der Küche verbracht habe. „Das war unsere Aufgabe“, ihr Mann habe nur Tee machen können. Dass auch Männer heute kochen, sei eine gute Entwicklung. Kasias Mutter Wanda erinnert sich an ein Familienessen. Für einen Verwandten sei kein Besteck gedeckt gewesen, da habe er angefangen, mit den Händen zu essen. „Das war nicht böse gemeint. Es war seine Art, uns seine Haltung klarzumachen“, sagt Wanda. Dass sich ihre Tochter an den derzeitigen Frauenprotesten beteiligt, macht ihr Sorgen, es handle sich „um einen schwierigen Kampf“.
Oma Alina interessiert sich nicht wirklich für die Proteste – letztlich aber solle jede Frau selbst über eine Abtreibung entscheiden. Für ihre eigene Generation hätte das Thema ohnehin nie eine Rolle gespielt. Die beiden Älteren wissen von keiner Frau in ihrem Umfeld, die je einen Schwangerschaftsabbruch hatte. Was nicht heißen muss, dass es da keine Frauen gegeben hat, die sich so gegen ein Kind entschieden haben. „Es war legal und deswegen kein Thema“, sagt Wanda.
Schwangerschaftsabbrüche waren tatsächlich in Polen lange erlaubt. In öffentlichen Kliniken wurden sie sogar kostenlos durchgeführt, bis zur zwölften Woche. Damit galt das sozialistische Polen selbst für Frauen aus der DDR eine Zeit lang als „Abtreibungsland“ – bis auch die DDR die Gesetze lockerte. Doch ab 1989 wuchs der Einfluss der katholischen Kirche auf die Gesetzgebung in Polen. Gemeinsam mit konservativen Parteien und politischen Gruppen setzte sich die Kirche für ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Das konnte zwar nicht durchgesetzt werden, dennoch gab es 1993 ein neues Gesetz. Es erlaubte Abtreibungen noch in drei Fällen: wenn die Schwangerschaft infolge einer Straftat eintrat, bei Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren oder bei unheilbarer Erkrankung des Fötus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind als eigenständig lebensfähig gilt.
„Viele Menschen unterstützen weniger traditionelle Lebensmodelle – bis es um jemanden geht, der ihnen nahesteht“
Kasias Mutter Wanda hält es für unehrlich, dass die Politik mit dem Abtreibungsverbot nun vermeintlich Leben schützen wolle, sich aber andererseits nicht für die Lebensumstände der Menschen interessiere. Den Frauenprotest hat Kasias Tochter Nadja damals noch aus der Schule mit nach Hause gebracht. Schon damals stand die Verschärfung des Gesetzes im Raum, die „schwarzen Proteste“ 2016 waren eine Antwort darauf. Die junge Erwachsene engagierte sich und steckte ihre Mutter damit an, hat irgendwann aber selbst resigniert.
Nadja sieht das Land gespalten: Die einen würden an Traditionen festhalten, andere wären offen gegenüber aktuellen Debatten. Dazwischen gäbe es wenig – „obwohl, Uroma Alina. Die ist neutral“. Ihre Zukunft sieht Nadja nicht in Polen, dafür fühle sie sich vor allem als Frau nicht sicher genug, erst recht nicht, wenn die PiS-Partei auch die kommende Wahl gewinne.
Zurück in ihrem Haus, mit der Pride Flag im Rücken, spricht Kasia von ihrer Bisexualität. Auch die kann in Polen zum Problem werden. Es gibt ganze Regionen, die sich damit brüsten, „LGBT-freie Zonen“ zu sein. Ihre Tochter Nadja, sagt Kasia, hätte damit kein Problem, sie sei selbst bi – aber ihrer eigenen Mutter habe Kasias Beziehung zu einer Frau zugesetzt. Sie brauchte ihre Zeit, um die Partnerschaft zu akzeptieren. „Viele Menschen unterstützen weniger traditionelle Lebensmodelle – bis es um jemanden geht, der ihnen nahesteht.“
Für Kasia und viele Frauen (und auch Männer) geht es nun nicht mehr nur um das Abtreibungsrecht,sondernum eine freiere Gesellschaft. „Wir kämpfen für alles: freie Gerichte, den Verbleib in der EU, Bildung.“ Dass sich das Land ändern könne, dafür sei sie selbst der beste Beweis. Auch sie sei schließlich mit einer klaren Vorstellung von der Rolle der Frau aufgewachsen. Autoritäten waren gesetzt und die Regeln unangreifbar. Doch ihr Gerechtigkeitssinn und der Input der jungen Generation in Gestalt ihrer Tochter haben sie dazu gebracht, Denkmuster abzulegen, die noch für Mutter und Oma selbstverständlich waren. Inzwischen sind diese es selbst für die beiden nicht mehr.