Die US-amerikanische Soulband The Winstons hatte es eilig, als sie im Frühling 1969 in Atlanta in einem Aufnahmestudio stand. Als eine sogenannte Bar-Band spielte sie in Kneipen aktuelle Chart-Hits hoch und runter – wie eine lebende Jukebox. Doch nun wollten die Band-Mitglieder ihre ersten eigenen Lieder aufnehmen. Die A-Seite ihrer kommenden Single, das brave Soulstück „Color Him Father“, hatten die Winstons bereits eingespielt. Fehlte noch etwas für die B-Seite. Also probte die Band in 20 Minuten die instrumentale Coverversion eines Gospelstücks ein und schrammelte sie aufs Band. Mittendrin fügte der Winstons-Schlagzeuger Gregory Sylvester „G.C.“ Coleman noch ein rund sechs Sekunden langes Drumsolo ein. Am Ende war das Füllmaterial, dem die Band den Titel „Amen, Brother“ gab, immerhin zweieinhalb Minuten lang.

Die noch im selben Jahr veröffentlichte Single wurde entgegen allen Erwartungen ein kleiner Hit, für das Titelstück bekamen The Winstons 1970 sogar einen Grammy. Das Stück auf der B-Seite sollte lange schlafen. Erst 1986 stießen zwei Angestellte eines New Yorker Plattenladens – Louis Flores alias „Breakbeat Lou“ und sein Kollege Leonard Roberts alias „Breakbeat Lenny“ – wieder darauf: Sie veröffentlichten es auf dem ersten Teil ihrer Schallplattenreihe „Ultimate Breaks & Beats“. Damit wollten die beiden Platten-Nerds HipHop-DJs helfen, die für ihre Auftritte gute Breaks suchten, also kurze Passagen, in denen alle Instrumente bis auf das Schlagzeug verstummen. Die DJs fügten diese Breaks von zwei parallel laufenden Platten endlos hintereinander, damit Rapper darüber ihre Verse reimen konnten.

Ein Jahr nach der Wiederveröffentlichung von „Amen, Brother“ kamen erstmals preiswertere Sampler wie der E-Mu SP-1200 auf den Markt. Diese Geräte waren in der Lage, fremde Klänge digital aufzunehmen und wiederzugeben – und auch die damals noch weitgehend im Untergrund operierenden HipHop-Produzenten konnten sie sich nun leisten.

Bald mixte niemand mehr live seine Breaks von Schallplatten oder ließ sich gar einen Basistrack von einer Band einspielen wie noch die Rap-Pioniere Sugarhill Gang. Stattdessen bastelten die Hip-Hop-Produzenten nun fast alle ihre Stücke aus Samples zusammen. Als eines der beliebtesten Bauteile entpuppte sich dabei das kurze Schlagzeugsolo aus „Amen, Brother“ von The Winstons, das die Hip-Hopper Ende der 1980er-Jahre über die Compilation der beiden New Yorker Plattenauskenner kennengelernt hatten. Die vier Takte aus „Amen, Brother“ wurden schnell als „Amen Break“ bekannt. Die Produzenten extrahierten das Drumsolo, drehten dessen Tempo herunter, spielten die Datei endlos hintereinander ab und ließen Rapper darauf los: Fertig war ein neuer HipHop-Track!

(Pop-) Kulturelle Aneignung? Yes, please!

Die Technik dafür war nicht neu. Die ersten Geräte, die fremde Klänge aufnehmen und dann als Instrument oder Klangschleife wiedergeben konnten, gab es schon in den 1950er-Jahren. Doch HipHop war die erste Popmusik, die vor allem auf dieses Konzept setzte. Schon bald nutzten Produzenten wie Marley Marl oder Rick Rubin die neuen Geräte, um aus Collagen alter Musikstücke gänzlich neue zu erschaffen: Sie bastelten sich Traum-Duos von Musikern, die in der Realität nie miteinander gespielt hatten, kontrastierten die gesampelten Stücke mit inhaltlich anders gelagerten Raps oder nutzten die Samples als zusätzliche Kommentarspur. So eigneten sie sich alte Funk-, Soul- oder Jazz-Stücke an.

Bald begannen die Produzenten, als Ausgangsmaterial möglichst obskure Platten zu suchen – um zu beweisen, wie gut sie sich in der Musikgeschichte auskennen. So nannte sich ein Produzententeam angeberisch „Diggin’ In The Crates“, also „Graben in den (Platten-) Kisten“, und zwar nach abseitigem Sample-Futter. Einige Sampleausgräber trieben es auf die Spitze: Der Produzent Dr. Dre etwa soll in seiner Karriere bislang mehr als 800 Stücke gesampelt haben, sein Kollege DJ Premier kommt angeblich auf fast 1500.

Nur: Second Hand heißt nicht automatisch günstig

Die Klangcollagen stießen schnell weltweit auf Resonanz. Damit kamen nicht nur Diskussionen auf, ob Sampling überhaupt kreativ ist – natürlich sei es das, entgegnen HipHop-Fans: gut auswählen und geschickt rekombinieren kann schließlich nicht jeder. Als Rapper und Produzenten anfingen, mit ihren Samplestücken Geld zu verdienten, rief dies auch Schwärme von Rechtsanwälten auf den Plan, denn sie wollten im Auftrag der gesampelten Musiker ein Stück vom Kuchen abhaben. Fortan mussten die HipHop-Produzenten Samples „klären“, also Lizenzgebühren zahlen.

Nicht immer hielten sich die Hip-Hopper daran. Ein besonders prominenter Fall: Der Rapper Biz Markie wurde 1991 von dem Songwriter Gilbert O’Sullivan vor Gericht gezerrt, weil er ihn gesampelt hatte, ohne dafür zu zahlen. „Du sollst nicht stehlen“, donnerte der Richter Biz Markie entgehen. Der Rapper musste sein Album wieder einstampfen, seine folgende Platte nannte er trotzig „All Samples Cleared“. Der Prozess beendete das goldene Zeitalter des Samplings im Hip-Hop. Heute kosten Samples astronomische Summen, für ein prominentes Fitzelchen werden schnell 100.000 US-Dollar fällig.

Bloß ein paar Sekunden? Können einen trotzdem arm machen

Die Rapper von Public Enemy, die Anfang der 1990er-Jahre gern mal zehn oder zwanzig Samples in einem einzigen Stück übereinandergeschichtet haben, schätzen, dass sie ihre Alben unter heutigen Bedingungen für 159 US-Dollar das Stück verkaufen müssten, nur um die Samplegebühren zu decken. Leisten können sich Sampling heute nur noch erfolgreiche Superstars wie Jay-Z, der der Kunstform gerade auf seinem aktuellen Album „4:44“ huldigte. Alle anderen wurschteln sich so durch, indem sie ihre wieder komplett selbst eingespielten Stücke nach Samples klingen lassen – oder einfach illegal sampeln.

Viele der klassischen Break-Samples erfreuen sich dabei bis heute ungebrochener Beliebtheit. Dazu gehört „Funky Drummer“, eine kurze Schleife aus dem gleichnamigen Stück von James Brown, eingespielt vom damals gerade 18-jährigen Schlagzeuger Clyde Stubblefield, oder „Apache“ von der Incredible Bongo Band. Sogar bei den Rock-Dinosauriern Led Zeppelin wurden die Sample-Sammler fündig.

 

Aber kein Break ist so oft gesampelt worden wie das „Amen Break“. Schon Ende der 1980er-Jahre reimte jeder Rapper, der etwas auf sich hielt, über die vier Takte der Winstons. Ganze Generationen bastelten daraus ihre Stücke, vom New Yorker Produzenten Mantronix, der es als einer der Ersten in seinem passend betitelten Track „King of the Beats“ einsetzte, bis zu Tyler, The Creator. Später entdeckten auch Produzenten von Elektronikmusik-Stilen wie Drum’n’Bass oder Breakbeat-Techno das „Amen Break“. In der Folge gründeten sich komplette Mikro-Genres auf den vier Takten von Schlagzeuger Coleman. Insgesamt taucht das Mini-Drumsolo den Statistiken der Webseite Whosampled.com zufolge bis heute in mehr als 2400 Musikstücken auf.

Von all dem hatten die Winstons nichts. Zur Hochphase des Amen-Samplings scherte sich kein Mensch um Nutzungsgebühren. Später hat die Band nicht mal mehr versucht, Geld aus der Sache zu schlagen. Immerhin: Im Jahr 2015 sammelten zwei Briten per Crowdfunding rund 27.000 Euro für den Winstons-Bandleader – eine kleine Wiedergutmachung. G.C. Coleman, der eigentliche Erschaffer des „Amen Break“, konnte das Geld nicht mehr entgegennehmen. Er starb 2006 obdachlos, drogenabhängig und verarmt auf den Straßen von Atlanta. Seine vier Takte aber haben die Musikgeschichte verändert.

Titelbild: DAMON WINTER/NYT/Redux/laif