Sich um kurz vor 23 Uhr noch mal ein Sixpack Bier bringen lassen? Oder fürs Frühstück Milch und Eier, ohne vor die Tür zu müssen? Der Lieferdienst Gorillas verspricht seinen Kunden, dass es nach maximal zehn Minuten an der Haustür klingelt – dazu Preise wie im Supermarkt. Für die Lieferung kommen 1,80 Euro hinzu, egal wie viel man bestellt. „Schneller als du“ lautet der Claim des Unternehmens.
Gorillas wurde erst im Mai 2020 gegründet und innerhalb eines Jahres zum heißesten Startup des Landes. Zumindest für die Investoren, die Hunderte Millionen Euro in die Firma pumpten. Inzwischen sind Gorillas-Kuriere in 55 Städten in neun Ländern unterwegs, größtenteils Studierende aus dem Ausland und Menschen, die erst seit Kurzem im Land sind – Sprachkenntnisse benötigt man nämlich kaum.
Doch zuletzt sorgte Gorillas vor allem wegen der anhaltenden Proteste von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Schlagzeilen. Die Liste ihrer Beschwerden ist lang: unregelmäßige Bezahlung, schlechte Regenkleidung und kaputte Fahrräder, die manche Fahrt zum Gesundheitsrisiko machen. Am größten aber ist mittlerweile die Wut darüber, dass viele Rider fristlos entlassen wurden, weil sie an sogenannten wilden Streiks teilgenommen hatten.
„Sie nutzen unsere Rücken als billige Stoßdämpfer“
Zeynep Karlıdağ arbeitet seit Februar für das Unternehmen. Sie kam aus der Türkei zum Studieren nach Deutschland und suchte eine Arbeit. „Die ersten Wochen war ich sehr zufrieden mit dem Job“, erzählt sie. Zum ersten Mal seit Langem sei sie wieder krankenversichert gewesen, zudem habe sie in Teilzeit mehr verdient als eine Lehrerin in der Türkei mit einem Vollzeitjob. Doch schon nach ein paar Wochen bekam sie chronische Schmerzen im Rücken. Tatsächlich wogen die Rucksäcke der Rider schon mal über zehn Kilo. Zeynep glaubt, dass das Unternehmen extra die Gepäckkörbe an den Fahrrädern abgebaut habe, damit das Bier nicht durchgeschüttelt wird. „Sie nutzen unsere Rücken als billige Stoßdämpfer.“ Gorillas widerspricht nicht nur dieser Darstellung. Bereits im Juni hätte man sichergestellt, dass Lieferungen über zehn Kilo auf zwei Rider verteilt würden.
„Die Ausstattung mit Schutzkleidung wie Regenmänteln, Handschuhen und Jacken hat sich nach den Streiks wirklich verbessert“, räumt Zeynep ein. Unsichere Fahrräder seien aber weiterhin ein Problem, bisweilen käme es zu Unfällen. Und nach wie vor würde Gorillas Löhne nicht pünktlich und fehlerfrei zahlen. Davon erzählen auch andere Rider. Gorillas gibt lediglich „einen kleinen Prozentsatz an Fehlern in der Gehaltsabrechnung“ zu.
Viel Ärger gibt es auch immer wieder wegen der Schichtpläne. Für Zeyneps Freundin Duygu war das ein Grund, sich an den Streiks zu beteiligen. Sie zeigt Schichtpläne mit manchmal nur sieben Stunden Pause zwischen zwei Schichten, im deutschen Arbeitsrecht sind mindestens zehn vorgesehen. Laut Darstellung von Gorillas würde es nur zu Verstößen gegen die gesetzliche Ruhezeit kommen, wenn Beschäftigte selbstständig Schichten tauschten.
So wie sich früher Essenslieferdienste einen harten Wettbewerb boten, bei dem letztlich nur wenige übrig blieben, befindet sich Gorillas ebenfalls in Konkurrenz zu anderen Anbietern wie Flink, Getir oder Wolt. Wer irgendwann wirklich die Gewinne einfahren will, die das Milliardeninvestment rechtfertigen, wird wohl die anderen verdrängen oder schlucken müssen. Da ist es nicht förderlich, wenn das Image durch die Diskussion um schlechte Arbeitsbedingungen leidet. Bei einer Meinungsumfrage im Juli gaben 62 Prozent der Befragten an, dass sich ihre Meinung zu Gorillas durch die Arbeitskämpfe verschlechtert habe. Und eine Zeitung schrieb: Gorillas sei auf dem besten Weg, zum Symbol einer neuen Form von Arbeitnehmerausbeutung zu werden.
Um die Gemüter zu besänftigen, setzte Gorillas kleinere Rucksäcke und ein neues Schichtplanungstool ein – Firmengründer Kağan Sümer mischte sich sogar unter die unzufriedenen Rider, erzählte ihnen von seiner Leidenschaft fürs Fahrradfahren und versprach im Juli: „Ich würde niemals jemanden wegen eines Streiks feuern.“ Ein Versprechen, das er nur wenige Monate später brach.
350 Fahrer wurden fürs Streiken gefeuert
Denn im Oktober schickte Gorillas zahlreiche außerordentliche Kündigungen an Beschäftigte in Berlin und Leipzig, die im Verdacht standen, gestreikt zu haben. Die Gewerkschaft Verdi spricht von 350 Betroffenen. Vor der Firmenzentrale in Berlin kam es daraufhin wieder zu Protesten. „We fire in 10 minutes“, hieß es auf einem Transparent, „Wir feuern in zehn Minuten.“ Ob die Kündigungen rechtens waren, müssen wohl bald Gerichte klären. Fakt ist: Arbeitsniederlegungen, zu denen keine Gewerkschaft aufruft, gelten in Deutschland als unzulässig. Das Verbot dieser sogenannten wilden Streiks leitet sich aus einer Reihe von Urteilen aus den 1950er- und 1960er-Jahren ab. Viele Juristen glauben jedoch, dass diese Urteile im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen stehen. Mit dem Streikaufruf einer Gewerkschaft hätten die Kündigungen vermieden werden können, glauben viele Rider. Doch den Gewerkschaften fällt es schwer, sich im E-Commerce zu organisieren. Wo die Beschäftigten schlecht verdienen, sind kaum Mitgliedsbeiträge zu holen, die befristeten Arbeitsverhältnisse machen eine Bindung schwierig. Zudem sind die per Smartphone organisierten Flashmobs oder Boykottaufrufe auf WhatsApp in herkömmlichen Arbeitskämpfen eher unüblich.
Probleme bei den Schichtplänen, unregelmäßige Lohnzahlungen, mangelnder Arbeitsschutz: Vieles davon ließe sich mit einem Betriebsrat verbessern. Deswegen wollen Gorillas-Arbeiterinnen und Arbeiter auch einen solchen gründen, doch auch hier blockte die Unternehmensführung. Zwar verkündete man auf der Homepage, dass man die Gründung eines Betriebsrates unterstützen würde, doch versuchte man, die geplanten Betriebsratswahlen gerichtlich verbieten zu lassen. Ende November urteilte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, dass die Mitarbeiter ihre Betriebsratswahl fortsetzen dürfen – und schließlich wurde ein 19-köpfiges Gremium gewählt.
Eine der gewählten Betriebsrätinnen ist Zeynep. „Mit dem Betriebsrat können wir Einfluss auf Entscheidungen der Unternehmensführung nehmen“, sagt sie. Doch wie lange dieses Gremium bestehen wird, ist unklar. Sie geht davon aus, dass Gorillas weitere Versuche unternehmen wird, den Betriebsrat zu verbieten. Aber eins ist für Zeynep klar: „Wir kämpfen weiter für unsere Rechte.“
Titelbild: Simon Zamora Martin