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Ups, vergessen

Von der Französischen Revolution hast du gehört, aber von der Haitianischen noch nie? Warum manches Wissen wenig zählt, verdrängt wird und verloren geht

Haitianische Revolution

Klar hat jede*r von uns die Französische Revolution in der Schule behandelt. „Eine Geschichte, die die Menschheit nachhaltig prägen sollte“, heißt es oft: die Erklärung der Menschen- und Bürger*innenrechte 1789, die Hinrichtung von König Ludwig XVI., schließlich die Alleinherrschaft Napoleon Bonapartes. Bei diesen Fakten macht es auch Jahre nach der pubertären Prüfungsangst noch klick im Kopf.

Zeitgleich zur Französischen Revolution fand Tausende Kilometer von Paris entfernt ein Aufstand statt, der die Menschheitsgeschichte genauso hätte prägen können. Auf Haiti, damals eine französische Kolonie, erhoben sich zum ersten Mal erfolgreich Sklaven gegen ihre Herren und Kolonialisten. Doch über die Revolution im heute ärmsten Land Lateinamerikas zeigen Schul- und Geschichtsbücher, Museen oder Dokumentationen wenig bis nichts.

Die Gewinner schreiben die Geschichtsbücher

Dahinter steckt eine eurozentristische Geschichtsschreibung. Eurozentrismus meint eine Sichtweise, die vor allem eines im Fokus hat: Europa. Der Kontinent wird zum einzig relevanten Schauplatz und die europäische Geschichte als große Erfolgsgeschichte dargestellt. Obwohl die Geschichte von Haiti stark mit der heutigen Armut auf der Insel verbunden ist und viel über die Gegenwart Europas verrät, lernen Schüler*innen auf der ganzen Welt fast nichts darüber. Stattdessen müssen sie quasi jeden Schritt Napoleons auswendig lernen – weil es als Allgemeinwissen gilt. Warum? Die Antwort bieten die Ereignisse der haitianischen Geschichte selbst.

 

Im Jahr 1492 gründete Christoph Kolumbus (der Typ, der offiziell als „Entdecker“ eines anderen Kontinents außerhalb von Europa gilt, obwohl der längst bewohnt war) auf Cap-Haïtien die erste amerikanische Kolonie überhaupt. Während sich später im östlichen Teil der Insel die spanische Krone auf dem Gebiet der heutigen Dominikanischen Republik niederließ, gründete der französische Staat Ende des 17. Jahrhunderts die Kolonie Saint-Domingue auf dem Gebiet des heutigen Haiti. Die Insel war unter den europäischen Mächten begehrt, konnten sie doch hier mit dem Zucker- und Baumwollanbau, aber vor allem mit dem Sklavenhandel unvorstellbaren Reichtum anhäufen. Ende des 18. Jahrhunderts führten die wenigen französischen Kolonialherren auf der Insel ein exquisites Leben auf dem Rücken rund einer halben Million versklavter Menschen, die aus den verschiedensten Regionen Afrikas verschleppt worden waren.

Die Weißen bestanden auf ihr Recht, Sklaven zu halten

Die meisten dieser Menschen waren Frauen, unzählige von ihnen starben an Epidemien, Hunger und Erschöpfung. Laut Businessplan der weißen Franzosen dauerte die ertragreiche Arbeitsphase einer versklavten Person zwischen zwei und vier Jahren, bevor man sie durch eine*n neue*n, fittere*n Sklavin bzw. Sklaven ersetzte. Schwarze Menschen waren in den Augen der weißen Kolonialherren keine Menschen. Die haitianische Gesellschaft setzte sich wie folgt zusammen: (1) Weiße Sklavenhalter, (2) ihre Nachkommen, die sie zum Teil mit Sklavinnen zeugten, (3) ärmere weiße Arbeiter*innen, auch Petits Blancs („Kleine Weiße“) genannt, und (4) versklavte Schwarze.

Als sich auf Haiti die Nachricht von der Französischen Revolution verbreitete, hätte man sagen können: Die Gruppen 1 bis 4 sind ab sofort gleichgestellt. Stattdessen geschah Folgendes: Die „Petits Blancs“ beschwerten sich, dass ihnen ihr „Menschenrecht auf den Besitz von Sklaven“ verwehrt wurde. Für die Schwarze Bevölkerung auf Haiti bedeutete das: Die Abschaffung der Sklaverei kann nur durch einen Befreiungskampf der Schwarzen selbst erfolgen. 

Während in Frankreich die Erklärung der Menschen- und Bürger*innenrechte feierlich verkündet wurde, ging die rassistische Entmenschlichung Schwarzer Menschen auf Haiti einfach weiter. Es folgte ein haitianisches Geschichtskapitel, das so gar nicht zur heutigen romantisierten Erzählung der Französischen Revolution passt:

Auf der karibischen Insel begann 1791 ein Sklavenaufstand. Der französische General Jean-Pierre Boyer suchte auf Haiti kurz darauf eigenhändig versklavte Menschen aus, die er öffentlich auf den Marktplätzen hinrichten ließ. Boyer wollte damit die immer selbstbewusster werdenden Schwarzen einschüchtern. Die Aktion sollte aber auch die weißen Kolonialisten amüsieren und ihnen zeigen, wer auf Haiti das Sagen hatte. Überhaupt machte der Sklav*innenaufstand Wunder möglich: Großbritannien eilte Frankreich auf Haiti zu Hilfe, obwohl die beiden Länder in Europa Erzfeinde waren. Der unbedingte Wille, die Sklaverei aufrechtzuerhalten, einte die Repräsentanten der vermeintlichen europäischen Überlegenheit in der Karibik.

Und diese Geschichtsstunde geht turbulent weiter: Die Verbrüderung zwischen Briten und Franzosen brachte einige Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung so dermaßen auf die Palme, dass das Parlament 1794 die Sklaverei zeitweise abschaffte. Nicht wegen der krassen Menschenfeindlichkeit, mehr aus Nationalstolz: Eine Zusammenarbeit mit der britischen Krone kam für die stolzen Franzosen nicht in Frage. Die Abstimmung der Parlamentarier in Paris machte mehr als eine Million Schwarze Menschen in den Kolonien auf einen Schlag zu französischen Bürger*innen. Tatsächlich gleichgestellt wurden sie aber nicht. 

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Haitianische Revolution (Bild: Universal History Archive/Universal Images Group via Getty Images)
Am 1. Juli 1801 verkündete der ehemalige Sklave Toussaint L'Ouverture die Verfassung der Republik Haiti. Durch sein Geschick ebnete er den endgültigen Sieg der Schwarzen. Die Unabhängigkeitserklärung Haitis erlebte er nicht mehr, … (Bild: Universal History Archive/Universal Images Group via Getty Images)

Auch der Haitianer Toussaint Louverture erkannte, dass sich die Schwarzen selbst befreien mussten. Der ehemalige Sklave wurde zum Anführer des gewaltsamen Aufstands auf Haiti, der zahlreiche Opfer forderte. Über die Jahre schloss Louverture clever strategische Bündnisse und kämpfte wechselnd mit und gegen Frankreich, Großbritannien und Spanien. Er verlieh Haiti eine Verfassung, die ein Verbot von Diskriminierung vorschrieb und die Sklaverei abschaffte. Die Unabhängigkeit von Haiti am Neujahrstag 1804 bekam Louverture jedoch nicht mehr mit: Er starb kurz zuvor in einer kalten Gefängniszelle im französischen Jura-Gebirge, in das er vom französischen Kolonialstaat verschleppt worden war.

Die haitianische Revolution prangerte den europäischen Rassismus an

Eine universale Geschichtserzählung, die die Perspektive vieler Staaten und Gruppen ernst nimmt, kann die Welt, wie die meisten von uns sie verstehen und in Schulen, Museen und Medien kennengelernt haben, auf den Kopf stellen. Der Aufstand der Sklaven auf Haiti hielt und hält den weißen Errungenschaften der Aufklärung den Spiegel vors Gesicht. Alle Menschen werden Brüder: Wirklich? Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit: Für welchen Teil der Menschheit waren diese Menschenrechte gedacht? Oder eher: Für welchen nicht? Mit Blick auf Haiti bröckelt das positive Image der Französischen Revolution.

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Der haitianische Freiheitskampf prangerte den europäischen Rassismus und die damit verbundene koloniale Ausbeutung Schwarzer Menschen und People of Color an. Das Wissen darüber verdrängte man über Jahrhunderte in Europa – und weil die eurozentristische Geschichtsschreibung fast überall auf der Welt durch den Kolonialismus und die europäische Kulturhegemonie als Standard gesetzt wurde, kennen auch andere Menschen in anderen Regionen nur eine Version: Vive la France!

Die Unabhängigkeit von Haiti hatte indes nicht den weitreichenden Einfluss, den die Französische Revolution erzielen konnte: Die USA und alle europäischen Mächte weigerten sich, den haitianischen Staat anzuerkennen. Die Revolution sollte nicht als Vorbild für andere unterdrückte Schwarze und People of Color und ihren eigenen Freiheitskampf dienen.

Du willst es noch besser wissen?

Dieses Video gibt einen Crashkurs in haitianischer Geschichte.

Und das hier erklärt, warum Haiti heute so arm ist.

Auf bpb.de gibt's noch mehr zur Geschichte Haitis, zu Globalgeschichte und Postkolonialismus.

Und für Fortgeschrittene: Susan Buck-Morss' „Hegel und Haiti – Für eine neue Universalgeschichte“, erschienen bei Suhrkamp.

Titelbild: Universal History Archive/Universal Images Group via Getty Images

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