fluter.de: Die WHO sieht Glücksspiel- oder Drogensucht schon lange als Krankheit an. Was ist an der Computerspielsucht so gefährlich, dass sie nun eine neue Suchtkategorie bildet?
Bernd Sobottka: Computerspiele ähneln durch die tolle Grafik immer mehr der Realität. Dinge, die im wirklichen Leben schwierig oder schwer erreichbar sind, wie zum Beispiel soziale Anerkennung, kann man da relativ leicht bekommen. Besonders für junge Menschen, die vielleicht im normalen Leben Schwierigkeiten haben, birgt das eine Gefahr. Die Spiele sind oft so gemacht, dass sie Anreize schaffen, immer weiterspielen zu wollen. Menschen können sich komplett in dieser virtuellen Welt verlieren.
Abtauchen in eine virtuelle Welt – machen das nicht die meisten Menschen, wenn sie ständig auf Instagram oder Snapchat sind?
Klar, das ist auch eine Form von virtuellem Leben. Es kann auch exzessiv genutzt werden. Daher sprechen wir in der Klinik neutral von pathologischer Internet- und Computernutzung. Das virtuelle Leben in Computerspielen übt aber eine besondere Faszination aus. Der Mensch hat bestimmte Grundbedürfnisse wie zum Beispiel nach sozialer Anerkennung, Selbstwertsteigerung, Lustgewinn. Wenn ein junger Mensch in einer kritischen Lebensphase – wie der Pubertät – diese Grundbedürfnisse offline nicht befriedigen kann, findet er in Computerspielen womöglich eine alternative Möglichkeit dafür. Ein Online-Rollenspiel kann ein einfacher Weg sein, Grundbedürfnisse umfassend zu stillen.
„Krankhaft und gefährlich für die Betroffenen wird es, wenn diese Nutzung negative Konsequenzen für das reale Leben hat“
Ist das denn zwingend problematisch? Immerhin haben sich Computerspiele in den letzten Jahren einen Platz als anerkanntes Kulturgut erkämpft.
Ich bin überhaupt nicht derjenige, der Computerspiele verteufelt. Sie sind für mich Realität und Gegenwart: Unterhaltung, die völlig in Ordnung ist. Krankhaft und gefährlich für die Betroffenen wird es, wenn diese Nutzung negative Konsequenzen für das reale Leben hat. So definiert es auch die WHO. Wenn beispielsweise soziale Kontakte, Erwerbstätigkeit, schulische oder studentische Aufgaben vernachlässigt werden. In vielen Fällen kommt es auch zu körperlichen Folgeschäden wie orthopädischen Erkrankungen durch das lange Sitzen am PC oder zu Fehlernährung, die zu Übergewicht oder Diabetes führt.
Die meisten behandelten Patienten leiden unter mehreren psychischen Problemen gleichzeitig. Verdeckt die Diagnose „Computerspielsucht“ diese Erkrankungen?
Wir haben eine Studie gemacht und herausgefunden, dass 50 der Patienten mit pathologischer PC- und Internetnutzung zusätzlich eine Depression haben, ein weiteres Viertel hat auch noch eine soziale Angststörung. Man kann nicht nur das Krankheitsbild „Computerspielsucht“ behandeln, man muss die anderen Krankheiten mitbehandeln.
Welchen Unterschied macht es, dass die WHO Computerspielsucht als Krankheit anerkennt?
Das Thema wird dadurch mehr ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Für Patienten wird es vielleicht einfacher, einen Therapieplatz zu erhalten. Auch wird man sich dann in Deutschland auf eine einheitliche Bezeichnung für dieses Krankheitsbild verständigen: Bisher ist die ICD-11-Klassifikaton nur auf Englisch erschienen. Darin heißt die Krankheit „Gaming Disorder“. Es ist noch gar nicht klar, welches deutsche Wort für „Gaming“ benutzt werden soll.
Sie sagten, dass die Patienten den Unterschied zwischen virtueller und realer Welt nicht mehr kennen. Wie lernen sie, wieder in der Realität anzukommen?
Ein erster Schritt ist schlichtweg die Konfrontation mit der Realität. Ein Beispiel: Der Patient sagt von sich: „Ich habe viele Freunde und bin sozial integriert.“ Wir sagen: „Was heißt das?“ Er sagt: „Ich habe in meiner Community viele Freunde.“ Wir sagen: „Wie viele Freunde haben Sie?“ Er: „Hundert.“ Wir: „Wie viele davon haben Sie im letzten Jahr getroffen?“ Wir Therapeuten checken die Realität. Der Patient meint virtuelle Freunde. Vielleicht sind sie sich ganz vertraut, waren täglich mehrere Stunden miteinander über Teamspeak verbunden. Gemeinsam haben sie tolle Sachen erlebt, Dinge entdeckt, Krisen durchgestanden: Sie hatten im Spiel ganz große freundschaftliche Gefühle. Eine beliebte therapeutische Frage ist: „Wodurch zeichnen sich Freundschaften aus?“ Dann erkennt der Patient schnell: Reale Freunde kommen auch mal vorbei, wenn es einem schlecht geht, oder kochen einen Tee, wenn man krank ist.
Was ist die ICD-11?
Alle medizinischen Diagnosen, die weltweit anerkannt sind, sammelt die Weltgesundheitsorganisation in einem Katalog: der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD). In diesem Diagnosekatalog sind Tausende Krankheiten gelistet, um deren Diagnose vergleichbar zu machen. Seit 1900 gibt es die ICD, die im Juni in ihrer elften Auflage erschienen ist.
Titelbild: Mark Peterson/Redux/laif