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„Viele junge Menschen brauchen dieses sexuelle Theater nicht“

Sex soll bombastisch sein, und wir sollen viel davon haben. Mit dieser gesellschaftlichen Erwartung ist ganz schön viel Druck verbunden. Die Wissenschaftlerin und Autorin Beate Absalon plädiert für einen anderen Umgang mit Sexualität

  • 9 Min.
Gen Z, Sex

fluter.de: Sex scheint für die Gen Z einen anderen Stellenwert zu haben als für die Generation davor. Junge Menschen werden später sexuell aktiv. In einer Studie mit jungen US-Amerikaner:innen sagte außerdem die Hälfte, sie wolle weniger Sex und mehr Freundschaft in den Medien sehen. Wie erklärst du das?

Beate Absalon: Man spricht deshalb ja auch von Puriteens, also prüden Teenagern. Die Gründe sind wahrscheinlich vielfältig. Junge Menschen wachsen heute mit so vielen Krisen auf, dass sie an ein sexuelles Austoben häufig gar nicht denken können. Zweitens gibt es eine Übersättigung: Weil die Strategie von „Sex Sells“ von früheren Generationen so stark eingesetzt wurde, stumpft die jüngere Generation ab. Insgesamt sind sie also eher müde als prüde. Und die Frage ist auch: Von welchem Sex gibt es heute weniger und von welchen anderen Intimitäten vielleicht dafür mehr? Bei jüngeren Menschen scheint außerdem ein therapeutischer Zugang zum Leben sehr präsent zu sein. Die übergroßen Bilder von Sexualität clashen mit dem Bedürfnis, das Nervensystem zu regulieren und eine Sensibilität für Trauma zu kultivieren.

Und es ist ja nicht so, als hätte die junge Generation gar keinen Sex mehr.

Genau, viele haben eher eine ganz bestimmte Form von Sex satt und sehnen sich nach vielfältigeren Formen von Intimität. Es scheint eine gewisse Desillusionierung zu geben, was die an Sex geknüpften Glücksversprechen angeht. Da scheint mir die neue Generation sehr aufgeklärt. Viele junge Menschen brauchen dieses sexuelle Theater nicht, von dem es heißt, dass es sich lohnen würde, es aufzuführen. Damit meine ich die gesellschaftliche Überladung von Sex mit großer Bedeutung, die zu mehr Stress als Spaß führt. Denn wenn man mehr damit beschäftigt ist, für einen meist doch nur wieder patriarchalen, männlichen Blick möglichst sexy rüberzukommen, sich zu vergleichen und ein richtiges Maß an Sex einzuhalten, verpasst man zu genießen, worauf man wirklich Lust hat.

„Es herrscht gesellschaftlicher Druck, Sex haben zu müssen, um nicht als ‚Schlappschwanz‘ oder ‚alte Jungfer‘ zu gelten“

Sex kann einen sehr großen Druck auf alle ausüben – auch auf junge Menschen. Woher kommt das?

Der französische Philosoph Michel Foucault spricht davon, dass sich die Bedeutung von Sexualität im 19. Jahrhundert verändert hat. Das war eine Umbruchphase: Durch Kapitalismus und Industrialisierung veränderten sich im urbanen westlichen Raum die Machtstrukturen hin zu Gewinnmaximierung und Leistungssteigerung. Mit der Erfindung der Psychoanalyse und Sexualwissenschaft wurde sexuelles Verhalten in Kategorien des vermeintlich Normalen und Anormalen aufgeteilt. Bis heute spielt Sex eine große Rolle in der Identitätsfindung. Das Streben nach einem sexuellen Idealbild kann so weit gehen, dass Menschen Orgasmen faken, versuchen, im Bett besonders gut zu performen oder als besonders begehrenswert zu erscheinen.

Damit beginnt das, was du „Zwangssexualität“ nennst. Was meinst du damit?

Ich habe diesen Begriff in der Forschung zu Asexualität entdeckt. Asexuelle Menschen leiden unter der Unterstellung, etwas stimme nicht mit ihnen. Gleichzeitig sind sie der lebende Beweis dafür, dass es in ihrem Leben nicht an Lust, Intimität oder Freude mangelt. Die Auseinandersetzung mit Asexualität deckt eher auf, wie freudlos unser „normaler“ Umgang mit Sex ist. Es herrscht gesellschaftlicher Druck, Sex haben zu müssen, um nicht als „Schlappschwanz“ oder „alte Jungfer“ zu gelten. Unsere Kultur tischt uns sexuelle Verwirklichung als etwas ganz Wichtiges auf. Aber wie können wir wirklich selbstbestimmt und freiwillig „Ja“ zu Sex sagen, wenn das „Nein“ zu Sex dermaßen beargwöhnt wird?

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Not giving a fuck
Das Buch „Not giving a fuck“ von Beate Absalon ist im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.

Männer trifft der Druck noch einmal anders, schreibst du.

Wer als Mann sozialisiert wird, an den wird die Erwartung getragen, doch eh immer nur das eine zu wollen. Deswegen auch das Vorurteil, man müsse Männer gar nicht nach ihrem Einverständnis fragen und es läge nur an den Frauen, Ja oder Nein zu sagen. Glücklicherweise treten immer mehr Frauen für ihr Recht auf Selbstbestimmung ein, doch leider erlebe ich auch öfters, dass sie eine Abfuhr durch einen Mann wiederum schlecht annehmen können und sie persönlich nehmen, verblüfft, beleidigt oder sogar mit Beleidigungen reagieren.

Wie können wir alle denn besser mit diesem Druck rund um Sexualität umgehen?

Wir können unseren Begriff vom Scheitern überdenken und unsere angeblichen Makel großzügiger und gastfreundlicher in unser Leben einladen. Es klappt nicht immer alles, und es ist nicht so schlimm, sondern formt unser Leben, unseren Sex, unsere Partnerschaften. Wir sind dann herausgefordert, uns mit uns selbst, mit unserem Sex und mit unserem Gegenüber wirklich auseinanderzusetzen. Was ist uns wirklich wichtig: vier Mal im Monat Sex haben, weil das die statistische Norm ist? Oder geht es darum, einander mit Integrität zu begegnen?

Aber es ist ja gar nicht so einfach herauszufinden, was man wirklich möchte, oder?

Als Wesen, die in einer bestimmten Kultur aufgewachsen sind, stecken gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen in uns allen. Ich glaube, da muss man Widersprüche und Ambivalenzen aushalten. Denn obwohl ich queer und Feministin bin, habe ich auch Fantasien, die damit nicht d’accord gehen. Anstatt mich dafür zu rügen, will ich wohlwollend mit mir sein. Man kann sich immer wieder fragen: Ist die Art, wie ich mein Liebesleben führe, für mich noch interessant, oder fühlt sie sich entfremdet an?

Du schreibst, dass es auch helfen würde, Sex nicht nur aus einer Perspektive zu betrachten. Welche Perspektiven fehlen denn?

Wir fokussieren uns zu sehr auf ein normatives „healthy sex life“, bei dem Sex regelmäßig praktiziert werden sollte, aber weder zu routiniert noch zu abgedreht sein darf. Da fehlt aber zum Beispiel die Perspektive der Asexuellen oder der freiwillig Zölibatären. Aber nicht nur, denn viele Menschen haben Phasen in ihrem Leben, in denen sie lieber verzichten oder gar keine Lust auf Sex verspüren. Es gibt Menschen, die sehr glücklich, „normal“ und gesund leben, obwohl sie anders, nicht oder weniger begehren.

„Wenn wir verkrampfen, nicht steif werden oder nicht kommen: Da hilft es, die Perspektive zu ändern und das nicht als Störfaktor anzusehen“

Ein anderer Punkt ist der Moment, wenn unsere Körper streiken. Wenn wir verkrampfen, nicht steif werden oder nicht kommen: Da hilft es, die Perspektive zu ändern und das nicht als Störfaktor anzusehen. Im Gegenteil, vielleicht macht uns der Körper darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt mit dem Sex, den wir haben. Das anzusprechen ist nicht leicht, weil wir unsere Partnerperson vielleicht nicht kränken möchten. Oder wir scheuen die Anstrengung eines ehrlichen Gesprächs, das über „Schatz, du warst großartig“ hinausgeht. Ein Ausweg ist, Sex nicht allzu wichtig zu nehmen. Dann ist auch das Ausprobieren von etwas Neuem kein Drama mehr.

Gleichzeitig gibt es doch auch gute Gründe dafür, warum Sex heute so viel Aufmerksamkeit bekommt. Frauen und queere Menschen können ihre Sexualität heute selbstbestimmter leben als früher – dazu gehört ein langer Kampf gegen Normen und Scham.

Das ist natürlich etwas Gutes! Ich bin selbst Teil der queeren Community und möchte deshalb einen liebevoll-solidarisch-kritischen Blick auf etwas lenken: Es macht Sinn, dass wir uns auf Sex fokussiert haben, weil er unterdrückt wurde. Nach dem Motto: „Wir vögeln jetzt, wie wir wollen und so viele wir wollen.“ Nur wird Sex in einer patriarchalen Kultur nicht nur unterdrückt. Es wird ebenso dazu aufgefordert, dass wir es tun und uns darin verwirklichen und möglichst viel darum kreisen sollen. Dann ähnelt der Widerstand dem, von dem er sich eigentlich abwenden wollte.

Hast du das Gefühl, du bewegst dich da auf einem schmalen Grat? Man könnte auf den ersten Blick meinen, du willst moralisieren.

Wer mir Sexfeindlichkeit oder Bevormundung vorwirft, hat mein Buch nicht gelesen. Denn die Botschaft darin ist: Lebe du dein Leben, wie du es leben möchtest. Und für manche gehört Sex dazu. Go for it, dann mach es, großartig. Ich liebe Schlampen und bin selber eine. Und wenn du keinen Sex haben möchtest: Großartig, dann mach ihn nicht. Ich liebe prüde Trotzköpfe und bin selber einer. Mein Wunsch ist, sich von gesellschaftlichen Vorstellungen nicht blenden zu lassen, sondern im Kontakt mit den eigenen Impulsen zu sein, die sich in der Lust wie in der Lustlosigkeit äußern können.

Beate Absalon, 1989 geboren, ist Kulturwissenschaftlerin. Sie promoviert derzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen über das Aushandeln einvernehmlicher Sexualität. Außerdem gibt sie unter dem Namen luhmen d’arc selbst Workshops zu sexuellen Spielarten.

Portrait: Maria Leibnitz

Titelbild: Rona Bar & Ofek Avshalom / Connected Archives

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