„Das Ding am Lotto ist das Träumen“

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„Das Ding am Lotto ist das Träumen“

Für unsere Autorin, Tochter einer passionierten Glücksritterin, war Lotto lange vor allem eins: Geldverschwendung. Bis sie selbst mal drei Richtige hatte

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Lotto

Ich stehe an einem gelb-roten Stehtisch und tippe auf sechs von 49 Zahlen auf meinem Lottoschein. Bis zu zwölf Tippfelder lassen sich ausfüllen, und weil mehr Versuche meine Chance zu gewinnen erhöhen, fülle ich alle aus. Online habe ich eine Liste mit den meistgezogenen Lottozahlen gefunden. Rein rechnerisch sind alle gleich wahrscheinlich, ich entscheide also nach für mich wichtigen Daten: Geburtstage und Glückszahlen. Als sie mir ausgehen, wähle ich die Zahlen aus, die mir als erste ins Auge stechen. Alle Zusatzziehungen spiele ich gleich mit, obwohl ich keine Ahnung habe, was Super 6, Spiel 77, Glücksspirale und Sieger-Chance bedeuten.

Zwei Richtige: Die GIFs zeigen Lottofee Miriam Hannah …

„Das macht 27,15 Euro“, sagt der junge Mann hinter der Kasse. Ich erschrecke. Aber wenn ich am Samstag den Fünf-Millionen-Jackpot gewinne, jucken mich knapp 30 Euro nicht mehr, denke ich. „Hast du noch einen Tipp für mich?“, frage ich ihn. „Manche spucken auf die Lottoquittung“, sagt er. Weil Glück nie schaden kann, mache ich das. Und warte auf die Ziehung am Samstag, wie Millionen andere mit mir.

Vergangenes Jahr haben laut einer Umfrage knapp sieben Millionen Menschen regelmäßig und rund 21 Millionen Menschen gelegentlich Lotto oder Toto (Fußballwette) gespielt. Die Lottozahlen werden jede Woche gelost, immer mittwochs und samstags. In Deutschland gibt es ein staatliches Lottomonopol, jedes Bundesland hat seine eigene Lottobehörde. Die Idee dahinter: Der Staat kontrolliert den Spieltrieb der Bevölkerung und schützt sie vor Spiel- und Wettsucht.

Der durchschnittliche Lottospieler ist ein Mann, älter als 35 und spielt am liebsten „6aus49“. Die Gewinnwahrscheinlichkeit für sechs Richtige plus Superzahl liegt bei 1:140 Millionen, also 0,00000071 Prozent. Unter einer so kleinen Zahl kann sich der Lottomann nichts vorstellen. Ich glaube, es ist wahrscheinlicher, dass einem ein Fremder einfach auf der Straße Bargeld schenkt, als dass man bei „6aus49“ den Jackpot gewinnt. Und trotzdem ist Lotto Volkssport. Vielleicht weil alle dieselben (schlechten) Chancen haben, ganz anders als sonst im Leben.

… und Chris Fleischhauer, die erste männliche Lottofee im deutschen TV

Meine Mutter spielt seit mehr als 20 Jahren. Im Gegensatz zu mir nur wenige Kästchen, Super 6 und Spiel 77. „Die werden aus den Endziffern der Spielscheinnummer gezogen“, erklärt sie mir am Telefon. Ihr Lottoschein kostet nur um die zehn Euro. Auch meine Taufpatin Elli war bis zur Pandemie Lottospielerin, dann traute sie sich nicht mehr in den Kiosk.

Beide erzählen mir, dass schon ihre Väter gespielt haben. „Also gut, noch eine Woche arbeiten“, soll mein Opa gesagt haben, wenn seine Zahlen wieder nicht gefallen waren. Elli erinnert sich, dass sie als Kind immer ganz leise sein musste, wenn die Lottozahlen im Radio angesagt wurden. Anfang der 1960er-Jahre habe ihr Vater mal 60 D-Mark gewonnen, die er indirekt wieder ins Lottospielen gesteckt hat: Er kaufte sich ein neues Radio.

Er muss einer der frühen Spieler gewesen sein: „6aus49“ wie wir es heute kennen wurde 1955 zum ersten Mal in Hamburg gespielt. Das Bundesland gründete damals zusammen mit Bayern, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Schleswig-Holstein den Deutschen Lottoblock, dem sich die anderen Bundesländer später anschlossen. Das erste Zahlenlotto fand schon im 17. Jahrhundert in Italien statt: Die Stadtverfassung Genuas sah vor, jedes Jahr fünf neue Ratsherren aus einer 90-köpfigen Bürgerliste zu losen. Aus dieser Ziehung und den darauf abgeschlossenen Wetten entstand eine Lotterie, 5 aus 90.

Ohne Lotto hätten alle Bundesländer große Haushaltslöcher

Lotto selbst ist noch älter. Die ersten Lotterien soll es in Mitteleuropa schon im ausgehenden Mittelalter gegeben haben. Die Erlöse wurden nach Kriegen, Brandunglücken oder Naturkatastrophen zum Wiederaufbau genutzt – wie später auch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ab 1965 wurden die Lottozahlen live im Fernsehen gezogen. Ich erinnere mich, als wäre ich all die Jahre dabei gewesen: eine blonde Lottofee, die Kugeln, die in zylinderförmige Gläser fallen, alle Angaben natürlich ohne Gewähr.

Seit 2013 wird die Ziehung ausschließlich online live übertragen. Ich sitze also am Samstag vor meinem Laptop. Die Lottofee spricht so schnell, dass ich kaum die Zahlen mitschreiben kann. Nach drei Minuten ist sie schon wieder weg. Mit sortierten Zahlen setze ich mich an meine Lottoquittung. Erstes Tippfeld: nichts. Zweites Tippfeld: nichts. Drittes: nichts. So geht es weiter, bis ich im siebten tatsächlich drei Richtige habe. Ich rufe meine Mutter an. Sie sagt mir, dass der Gewinn kaum meine Ausgaben decken wird. Darum entscheide ich mich spontan, die Zusatzziehungen nicht zu googeln. Ich will die Hoffnung konservieren und erst am nächsten Werktag im Kiosk nachsehen.

„Das Ding am Lottospielen ist das Träumen“, sagt Elli. Sie geht nicht davon aus, jemals zu gewinnen, weiß aber sehr genau, wie sie die nicht gewonnenen Millionen ausgibt. Sie würde es mit denen teilen, die ihr nahestehen, deren Schulden begleichen, Wünsche erfüllen und den Rest an Hospize, Demenzkranke und die Tafel spenden. Sich selbst würde sie einen teuren Trachtenjanker kaufen, sagt Elli. In den Tagen bis zur Ziehung überlege ich ständig, was ich mit einem Gewinn machen würde. Auf meiner Liste steht: Wohnung kaufen, eine Reise nach New York und eine nagelneue Designertasche als unnötigen Luxus, der ja dann wohl sein darf. Früher dachte ich immer, Lotto sei totale Geldverschwendung. Jetzt kann ich den Reiz verstehen, jede Woche aufs Neue zu hoffen, dass in ein paar Tagen alles anders aussehen könnte.

Die Träume platzen, als ich recherchiere, wie die Lottoeinnahmen verteilt werden. Das variiert: Lotterierecht ist Ländersache. Aber nur die Hälfte der Spieleinsätze (2022 ganze 3,9 von 7,97 Milliarden Euro) werden überhaupt wieder an die Spielerinnen und Spieler ausgeschüttet. Der Rest geht als Provision an die Annahmestellen, finanziert den Lotto-Verwaltungsapparat und fließt an die Bundesländer: Fast 17 Prozent gehen als Lotteriesteuern in die Länderhaushalte, rund ein Viertel müssen die Bundesländer als sogenannte zweckgebundene Abgaben einsetzen, zum Beispiel für die Arbeit von Sport- und Kulturvereinen oder Denkmalpflege.

Als ich am nächsten Werktag meinen Schein am Kiosk abgebe, steht dort wieder der junge Mann. Ich hätte 10,50 Euro gewonnen. „Noch mal spielen?“, fragt er. Kurz denke ich über mögliche Zahlen nach. Dann erinnere ich mich an meine Taufpatin Elli und gebe dem Obdachlosen, der vor der Tür steht, einen Zehner.

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