Wenn Jakob Springfeld von seiner Heimatstadt Zwickau zurück nach Halle fährt, kann er wieder etwas aufatmen. Er ist zum Studieren in die Großstadt gezogen und froh, dass ihn hier nur wenige kennen. In Zwickau ist das anders. Dort wird der 19-Jährige regelmäßig auf der Straße angesprochen. Denn Jakob ist in der örtlichen Fridays-for-Future-Gruppe aktiv und engagiert sich öffentlich gegen Rechtsextremismus. Neben Zuspruch erntet er dafür vor allem eines: Hass. Er wurde schon angespuckt, beleidigt und beim Feiern im Club herumgeschubst. Für den jungen Aktivisten ist das beängstigend: „Auch wenn es teilweise schon über ein Jahr her ist, hat sich das bei mir mega eingeprägt. Seitdem gehe ich anders durch die Stadt, und das wird noch Jahre so bleiben.“
Mittlerweile ist Jakob abends kaum noch allein unterwegs. Wenn er zum Stadtfest geht, feiert er nicht mehr unbeschwert mit seinen Freunden wie früher, sondern hat immer die Angst im Hinterkopf, jemand könnte ihn bedrohen. Für den Notfall haben seine Freunde und er eine Chatgruppe eingerichtet. Sollte einer von ihnen in Gefahr sein, kommen die anderen schnell zu Hilfe oder alarmieren die Polizei. Wie konnte es so weit kommen?
Bekannt wird Jakob, als er den Opfern des NSU gedenkt
Als in Zwickau 2019 ein Baum abgesägt wird, berichten Medien deutschlandweit darüber. Es ist nicht irgendein Baum. Er wurde im Gedenken an Enver Şimşek gepflanzt, das erste Mordopfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Die rechtsextreme Terrorzelle hat insgesamt zehn Menschen ermordet und lebte jahrelang im Untergrund, zuletzt in Zwickau. Der Gedenkbaum wurde nach nur wenigen Wochen von Unbekannten abgesägt. Daraufhin pflanzte die Stadt zehn neue Bäume. Zur anschließenden Gedenkversammlung kamen die Bundeskanzlerin und Sachsens Ministerpräsident. Zum Schluss ging das Wort an einen Schüler: Jakob. Der damals 17-Jährige trug eine dunkle Sportjacke und lächelte etwas schüchtern, als er nach dem Mikrofon griff. Seine Stimme aber war selbstbewusst, seine Worte deutlich: „Wir hoffen, dass es nicht dabei bleibt, dass wir hier Bäume gepflanzt haben.“ Im Namen seiner Schule hoffe er, dass sich die Stadt mehr mit den Taten des NSU auseinandersetze – aber auch zeige, wie bunt Zwickau eigentlich sei. Um gegen die Tat ein Zeichen zu setzen, organisierte Jakob mit ein paar Klassenkameraden spontan eine Gedenkaktion. Über 100 Schülerinnen und Schüler trafen sich in der Mittagspause zu einer Schweigeminute, viele brachten Blumen mit.
Durch Aktionen wie diese wird Jakob in der Stadt bekannt. Angefangen hat er bereits mit 14, als er für seine Klassenkameraden einen „Sozialen Tag“ organisierte, bei dem sie sich mit Geflüchteten in Zwickau austauschen konnten. Dass sein Engagement auch negative Reaktionen auslösen kann, war ihm anfangs nicht bewusst: „Ich habe das eher belächelt. Erst später wurde mir klar, dass sich die Stimmung immer mehr auflädt.“
Tatsächlich berichten viele Menschen, die sich politisch äußern, von Anfeindungen. Dabei gibt es sowohl im rechts- als auch im linksextremen Bereich einen Anstieg der Gewalt. Erst kürzlich sorgte eine Morddrohung gegen die Comedyautorin und Kolumnistin Jasmina Kuhnke, die sich seit Jahren gegen Rassismus engagiert, für Aufsehen. Im Netz war ein Video mit Gewaltfantasien und ihrer Adresse veröffentlicht worden. Laut einer Forsa-Umfrage erleben über die Hälfte der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Hass in ihrem Alltag: Beleidigungen auf der Straße, Drohnachrichten per Post oder in den Sozialen Medien. Jakob bereitet das große Sorgen: „Viele stehen unter dem gleichen Druck wie wir und haben Angst, angefeindet zu werden, wenn sie sich zu krass positionieren.“ Das sei auch deswegen problematisch, weil Kommunalpolitikerinnen und -politiker aus Angst oft nicht konsequent genug gegen gewaltbereite Gruppen in der Stadt vorgingen.
Aggresivität und Gewalt finde man nicht nur bei Extremisten – sondern auch in der Mitte der Gesellschaft, sagt Andreas Zick
Für den Sozialpsychologen Andreas Zick ist das eine beunruhigende, aber nicht überraschende Entwicklung. Er ist Teil des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) und leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. „Wir haben schon vor zehn Jahren vor einer Verrohung der Gesellschaft gewarnt“, sagt Zick. Seiner Meinung nach wurden Populismus, Aggressivität und Gewalt zu lange unterschätzt: „In Deutschland gehen wir bei vielen politischen Ideologien von Extremismus aus. Das ist nicht falsch, aber wir diskutieren viel zu wenig darüber, dass diese Einstellungen auch weit in der Mitte zu finden sind – und zwar quer durch alle sozialen Gruppen.“
Vor allem rechtsextrem oder rechtspopulistisch orientierte Personen verstärkten diese Einstellung durch starke Feindbilder, um die Gesellschaft zu spalten und möglichst viele Menschen gegen „die politische Klasse“ zu mobilisieren. Dazu suchten sie sich gesellschaftliche Themen, die ohnehin schon kontrovers diskutiert werden, wie beispielsweise Flucht, Migration, Feminismus oder Klimaschutz. Offenheit und Vielfalt würden als Bedrohung inszeniert, genauso wie Gruppen, die einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen – wie Fridays for Future. Gewalt gegen diese Menschen werde dann häufig als Akt des Widerstandes, also als notwendiges Mittel umgedeutet.
Zick beobachtet, dass Debatten immer aggressiver geführt werden und sich Konflikte oft nicht mehr konstruktiv lösen lassen. Mit der Zeit könne das unsere Demokratie aushöhlen: „Die zivilgesellschaftliche Kraft wird durch das Klima geschwächt. Es kann sein, dass sich Normen und Werte verschieben und wir bereit sind, mehr Gewalt zu akzeptieren.“ Seiner Meinung nach brauche es mehr Aufklärungs- und Präventionsprogramme sowie Zivilcourage-Trainings, um zu lernen, wie man Gewalt entgegentreten kann, und mehr Aufmerksamkeit für Betroffene. Denn diese würden sich mit der Zeit oft zurückziehen und verstummen.
Das beobachtet auch Jakob: „Viele junge Leute wollen nicht mehr über die Situation in Zwickau berichten oder nur anonym, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben.“ Sie fühlten sich nicht ausreichend geschützt – auch weil Behörden Hassbotschaften im Netz häufig nicht ernst nähmen: „Das wird leider noch viel zu oft weggelächelt nach dem Motto: Was im Netz steht, das passiert ja nicht in der Realität.“
Der Fall Lübke zeigt, welch fatale Konsequenzen der Hass gegen politische Feinde haben kann
Dabei zeigt spätestens der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dass Anfeindungen im Netz auch zu physischen Übergriffen führen können. Lübcke wurde 2019 durch einen Kopfschuss von einem Rechtsextremisten getötet – zuvor hatte Lübcke immer wieder virtuelle Hassbotschaften und Drohungen bekommen, weil er sich für Geflüchtete eingesetzt hatte.
Organisationen wie „HateAid“, eine Beratungsstelle für Betroffene digitaler Gewalt in Deutschland, fordern schon seit Langem, dass Anfeindungen und Hassbotschaften im Netz von Politik, Gesellschaft und Justiz härter verfolgt und als Gewalt anerkannt werden – auch mit Blick auf die psychischen Folgen für Betroffene, die von emotionalem Stress bis hin zu Depressionen reichen können.
Für Jakob kam der Hass gegen ihn überraschend, jetzt wendet er sich bewusst an die Öffentlichkeit, um Betroffenen zu zeigen: „Ihr seid nicht allein!“ Dabei ist ihm wichtig, nicht als Einzelschicksal gesehen zu werden, denn er stehe stellvertretend für viele Menschen, die tagtäglich Hass erleben. Gleichzeitig sei er nicht der Einzige, der sich engagiere und traue, seine Stimme zu erheben – auch in Zwickau. Jakob bereut seinen Weg nicht und will sich auch weiterhin engagieren. Hätte er sich anders entschieden, wenn er schon vor fünf Jahren gewusst hätte, was für eine Angst er dadurch in seiner eigenen Heimatstadt mitunter haben würde? Darauf hat er keine eindeutige Antwort, es komme immer darauf an, in welchem Moment man ihn das frage. So oder so: Für ihn gebe es nun kein Zurück mehr.