Noé Kieffer (20) kommt aus Épinal und belegt seit Oktober 2016 in Münster den binationalen Studiengang „Internationale und Europäische Governance“, der in Kooperation zwischen der WWU Münster und der Science Po Lille angeboten wird. Er hat schon in der Schule Deutsch gelernt und an mehreren Austauschprogrammen teilgenommen.
Die Uni macht hier Spaß, in Frankreich ist das Studium eher trist und streng. Auch die Beziehung zu den Dozenten ist anders: Mal näher, mal respektvoller – das ist für mich verwirrend. Ich konnte mich in diesem Semester über keinen Dozenten lustig machen, weil einfach keiner lächerlich war. Das fand ich ziemlich merkwürdig, denn die Franzosen sind viel ironischer, auch sarkastisch. Sie beklagen sich die ganze Zeit über die anderen, über das Wetter – über alles. Das ist auch eine Art, Kontakt aufzunehmen: zusammen lamentieren oder sich gemeinsam über jemanden lustig machen. Die Deutschen sind eher respektvoll und politisch korrekt, sie reden auch nicht so schnell über Privates, bleiben länger reserviert.
„Kulturschocks? Habe ich oft“
Kulturschocks? Habe ich oft: Die Franzosen sind sehr stolz, auch wenn es regnet, bemühen sie sich um den Stil. Die Studierenden in Münster sind bei der Kleidung eher praktisch und wetterbezogen. Diese Regenhosen … Ich würde die in Frankreich nicht in der Uni tragen. Auch in der Küche sage ich meinen Mitbewohnern oft: „Das könnt ihr doch nicht machen!“ Zum Beispiel Weinschorle!? Das ist für mich barbarisch, dürfte gar nicht existieren.
Wenn ich mit meinen französischen Freunden unterwegs bin, verhalten wir uns manchmal wie richtige Franzosen: sprechen sehr laut, machen uns lustig über andere, brechen ein bisschen mit der übertrieben respektvollen Haltung der Deutschen. In Deutschland warten alle an roten Ampeln – in Frankreich macht das keiner. Manchmal provozieren wir deshalb auch ein bisschen und gehen einfach bei Rot.
Celine Kribs (23) kommt aus Sarrebourg und studiert seit September 2016 den Master „Textile Engineering“ an der RWTH Aachen. Nach ihrem Abschluss würde sie gern wiederkommen und in Deutschland arbeiten.
In meinem Deutschkurs habe ich von dem Klischee gehört, die Deutschen wären sehr kalt. Aber ich finde, das ist nur am Anfang so. Wenn man sie erst einmal kennengelernt hat, sind sie oft sogar freundlicher als die Franzosen. Ein Beispiel: In Frankreich geben wir uns zur Begrüßung zwei Küsse auf die Wangen. In Deutschland kriegst du direkt eine Umarmung – das finde ich viel herzlicher.
Insgesamt sind wir aber gar nicht so verschieden. Was hier anders ist? Dass die Leute auf der Straße Alkohol trinken. Das ist in Frankreich verboten, deshalb hat mich das ein bisschen schockiert. Genau wie die Werbung für Zigaretten. Ich finde beides nicht schlimm, aber für uns Franzosen ist das komisch. Obwohl es wahrscheinlich mehr Franzosen als Deutsche gibt, die rauchen.
„Stil, das ist auch so eine Sache“
Stil, das ist auch so eine Sache: In Frankreich hat jede Studentin eine Handtasche, in Deutschland haben alle einen Rucksack. Den wirst du in der Nähe einer französischen Schule oder Universität kaum finden, auch wenn er praktisch ist – sondern immer eine supertrendige Handtasche.
Mir ist außerdem aufgefallen, dass der Zweite Weltkrieg in Frankreich viel weiter weg ist als in Deutschland. Meine Generation denkt nicht mehr so viel über diese Vergangenheit nach, während es hier noch sehr präsent ist. Das hat mich sehr überrascht. Dass sich manche Deutsche meiner Generation sogar noch schuldig fühlen deshalb …
Catherine Hardouin (25) macht seit September einen Freiwilligendienst beim Deutsch-Französischen Jugendwerk in Berlin. Die Hälfte ihrer Familie lebt in der Nähe von Dortmund, in Lüdenscheid, wo sie auch geboren ist.
Wenn Leute hier erfahren, dass ich aus Frankreich komme, erwarten sie, dass ich rauche und Wein trinke – was tatsächlich stimmt. Dass ich oft zu spät komme – da ist auch was dran. Und natürlich, dass ich gut koche und gerne esse – alles Klischees, aber mit wahrem Kern. Ernsthaft: Ein gutes Stück Käse, wenn ich im Ausland bin, das ist schon … wichtig! Was Gutes zu essen ist wichtig.
Was sonst typisch französisch ist? Sich schnell über etwas zu beschweren. Irgendetwas ist immer verkehrt. Franzosen streiken viel, sie sind sehr kritisch, nie zufrieden – aber auch politisch interessiert: Sie haben Freude am Diskutieren. Und am Ende kommt irgendetwas Positives dabei raus.
„Um halb zehn gehen alle ins Bett“
Typisch deutsch hingegen: meine Familie in NRW. Bei denen ist alles sehr strukturiert: Um drei ist Kaffeetrinken, um fünf ist man fertig, um sechs oder halb sieben wird dann wieder gegessen, um halb zehn gehen alle ins Bett. Seit Jahren ist das immer dasselbe, das hat sich nie geändert.
Sarah Baron (21) kommt aus der Bretagne. Seit September 2016 studiert sie an der Humboldt-Universität Berlin „International Management“. Ihr Kulturschock: Radfahrer bei Schnee zu sehen („Was zur Hölle, ihr verrückten Deutschen!“). Mittlerweile tritt sie selbst bei Wind und Wetter in die Pedale.
An meinem ersten Wochenende in Berlin war ich im Mauerpark beim Karaoke. Da war eine Frau, die hatte es total drauf, alle haben geklatscht und ihr zugejubelt. Danach hat ein Typ gesungen – echt schrecklich. Aber die Leute haben ihn trotzdem gefeiert. Da dachte ich mir: Wow, bei uns wäre er ausgepfiffen worden!
In Frankreich gibt es keine Anfänger. Du musst immer alles sofort können, denn wenn du etwas versuchst, aber nicht auf Anhieb perfekt hinbekommst, dann bist du ein Loser. Deshalb versuchen es die meisten erst gar nicht. Lieber kümmern sie sich um ihr Aussehen, denn das ist bei uns wirklich, wirklich wichtig. Du kannst dich wie ein blödes Arschloch benehmen – wenn du nur gut genug aussiehst, ist das okay. Das macht mich wütend.
„Das fällt euch Deutschen schwer – wie das Flirten“
Wenn ich hier überhaupt etwas vermisse, dann spontan Kontakt aufzunehmen, in der S-Bahn zum Beispiel: Da halten die Leute Abstand voneinander, jeder ist für sich. Dabei entsteht meist eine total nette Unterhaltung, wenn erst einmal jemand den ersten Schritt macht! Doch das fällt euch Deutschen schwer – wie das Flirten. In Frankreich ist das allgegenwärtig, es bedeutet meist nicht einmal etwas. Wir sind richtige Pfauen! Hier ist es zwar viel entspannter, du bist nicht dauernd angespannt und versuchst, gut auszusehen, nur weil du erwartest, im nächsten Moment angesprochen zu werden. Aber wenn es dann doch passiert, ist es eine Überraschung: Mir hat letztens jemand gesagt, dass er mich wirklich mag – und ich habe das absolut nicht erwartet, denn er hatte sich das bis dahin null anmerken lassen.
Ihr Deutschen seid immer so kontrolliert. Das macht euch zwar effizient, aber ihr treibt es zu weit. Man sollte sich nicht immer so ernst nehmen.
Philippe Doliger (22) wurde in der Schule aufgezogen, weil er Deutsch als Fremdsprache wählte und oft bei seinen Großeltern in der Nähe von Stuttgart war. Seit Oktober 2016 ist er Praktikant im Bundestag – es ist bereits das vierte Praktikum, das mit Deutschland zu tun hat: Vorher war er beim Goethe-Institut, beim Deutschen Polen-Institut und in der Bayrischen Vertretung in Brüssel.
In einem Seminar musste ich mal einen französischen „Kultur-Eisberg“ malen: Welche Werte sieht man, welche sind versteckt? Das war ultraschwer! Am Ende habe ich viel über die Gastronomie aufgeschrieben. In Frankreich dauert zum Beispiel die Mittagspause immer länger als eine halbe Stunde. Hier gehe ich mit den Kollegen essen, eine halbe Stunde, und dann würde ich eigentlich gern noch ein bisschen plaudern, einen Kaffee trinken oder ein Dessert essen – aber das wird wohl nichts …
„Wir haben beide diese westeuropäischen Werte“
Auf einen deutschen Kultur-Eisberg würde ich auf jeden Fall den Föderalismus schreiben. Das beeinflusst die Leute, die regionalen Unterschiede sind hier echt stark, auch die Trennung von Ost und West ist noch sehr spürbar – leider. Dafür seid ihr eine sehr proeuropäische Gesellschaft, man sieht das bei Pulse of Europe. Die Franzosen gehen für Arbeiterrechte auf die Straße, für Europa eher nicht.
Insgesamt finde ich, Deutschland und Frankreich sind sich schon sehr ähnlich, wir haben beide diese westeuropäischen Werte. Aber wenn ich den Teil meiner Familie besuche, der in Polen lebt, merke ich einen echten Unterschied: im Umgang mit den Flüchtlingen, mit dem Islam, mit Abtreibung … Da liegen Welten zwischen uns.
Fotos: Kostis Fokas ; Porträts: privat