
Quick & dirty #2
Wie fühlt sich Arbeit an, die viele brauchen, aber nicht viele machen wollen? Unsere Autorin macht Praktikum als Kanalarbeiterin
Wer Kanalreinigerin werden will, gehört besser zu den Lerchen und nicht zu den Eulen, denn es geht früh los. Schichtbeginn sechs Uhr, das heißt für mich um halb fünf aufstehen. Angekommen auf dem Gelände der Berliner Wasserbetriebe, empfängt mich ein Bus mit der Aufschrift „Ohne uns läuft nix“. Das stimmt: Ohne meine heutigen Kolleginnen und Kollegen würde kein Tropfen Wasser durch die gut 9.700 Kilometer Berliner Kanalisation ablaufen.
Der erste Halt: Kleiderkammer. Ich kriege ein blaues Shirt, blauen Pulli, neonfarbene Latzhose und Stiefel. Franziska Wenk begleitet mich zu den Frauenumkleiden. Sie nimmt mich heute unter ihre Fittiche. Als Mitarbeiterin ist sie hier die Ausnahme. In ihrer Abteilung arbeiten mehr Kevins als Frauen. Die 32-Jährige ließ sich bei den Wasserbetrieben zur Industriemechanikerin ausbilden. „Weil die Übernahmequote bei 100 Prozent liegt“, sagt sie. Aber auch, weil sie wissen wollte, wie ein Klärwerk funktioniert. Nach 14 Jahren unter Berlin kennt Wenk sich bestens aus mit dem Abwassersystem.
Die Berliner Kanalisation ist rund 150 Jahre alt und von Metropolen wie London abgeguckt. Dort stank es Mitte des 19. Jahrhunderts zum Himmel, weil die Menschen ihren Abfall samt Fäkalien in die Themse schmissen. Der Gestank war nicht mal das Schlimmste: Der Fluss verbreitete Krankheiten wie Cholera oder Typhus. In einem besonders heißen Sommer wurde „The Great Stink“ so unerträglich, dass die Londoner beschlossen, ein modernes Abwassersystem zu errichten.
Nach fünf Minuten Fahrt kommen wir an unserem Einsatzort an. Eine Straßenseite ist bereits gesperrt, ein Pumpwagen steht am Schachtdeckel (die Bezeichnung Gullydeckel ist falsch und wurde mir schnell ausgetrieben). Vier Männer stehen ums Loch und starren hinein. Ein Anblick, an den ich mich gewöhnen werde.
Der Schacht gehe gut sieben Meter in die Tiefe, erklärt einer von ihnen. Und sei genau genommen kein Schacht, sondern ein Düker. Ein Kanal also, der unter Hindernissen verläuft, in unserem Fall unter der U-Bahn. Mein Glück ist, dass wir heute keinen Abwasser-, sondern einen Regenwasserdüker reinigen. Das ankommende Wasser füllt den Düker und steigt auf der gegenüberliegenden Seite, hinter dem U-Bahn-Tunnel, an, sodass es den Düker wieder verlassen kann. Theoretisch. Denn in diesem Düker geht nichts mehr. Der Schlamm von Jahrzehnten steht drei Meter hoch im Rohr. Ich beuge mich über das Loch. Es stinkt nach Autowerkstatt. „Reifenabrieb“, sagt der Kollege neben mir. „Muss alles leer gesaugt werden.“
Einer der Kevins zeigt mir, wie ich den Schlauch des Pumpwagens per Knopfdruck bediene. Aber absaugen können wir gar nichts. Der Schmock sitzt zu fest. Über einen anderen Schlauch lassen wir Wasser ins Loch laufen, um die Masse zu verdünnen. Wie viele Jahrzehnte der Düker nicht gereinigt wurde, weiß niemand. Wie wichtig es ist, sie mal zu reinigen, weiß die halbe Stadt, seit vor zwei Jahren wegen Dükerschäden eine mehrspurige Straße (der Kaiserdamm) abgesackt ist.
Magen-Darm bekomme man hier häufiger, „wegen der Scheiße-Aerosole in der Luft“
Es ist elf Uhr, und ich bekomme Hunger. Wenk sitzt schon im Auto mit ihrer instagramtauglichen Lunchbox: Vollkornbrot, körniger Frischkäse und Radieschen. Wenk lacht. Ihre Kollegen machen sich oft über ihr Mittagessen lustig. Ihnen reicht ein Brötchen von Backwerk, ein Energydrink und ein Kippchen.
Wie es ihr als Frau hier so ergeht, will ich wissen. Wenk zuckt mit den Schultern. Sie hat sich an die Sprüche gewöhnt, vor allem von Altkanalern, „die sind einen Zacken schärfer“. Sie mag ihren Beruf, gibt aber zu, dass der nicht für alle was ist. Regelmäßig steigt Wenk in Abwasserschächte, um Kameras oder Rohre zu reinigen. „Da klebt schon mal ein Nugget dran“, sagt sie. Das Duschen nach der Schicht ist Pflicht. Abwässer können krank machen. Morbus Weil ist eine Infektionskrankheit, die unter anderem durch Ratten, deren Urin oder kontaminiertes Wasser übertragen wird. Die Krankheit sei aber selten, beruhigt mich Wenk. Magen-Darm bekomme man schon häufiger, „wegen der Scheiße-Aerosole in der Luft“.
Der Schmock ist weg, jetzt geht es an den Abstieg. Ein Kollege erklärt mir den Gurt, der mich sichert, falls ich abstürze. „Das wäre keine Katastrophe, aber viel Schreibarbeit.“ Da ist er, der Kanalerhumor. Ich kriege ein Messgerät um den Hals, um den Schacht „freizumessen“ von gefährlichen Gasen, und klettere die Steigeisen hinunter. Unten reinige ich mit einem Hochdruckreiniger die Wände. Eine befriedigende Arbeit, übertreiben darf ich es aber nicht: Das Wasser kann ja nicht abfließen. Zurück im Tageslicht, wuchte ich den Deckel mit einem Eisenstab zurück auf den Kanal. Leider sieht jetzt niemand mehr, wie sauber es da unten ist.
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