
Quick & dirty #1
Wie fühlt sich Arbeit an, die viele brauchen, aber nicht viele machen wollen? Unsere Autorin macht Praktikum als Fußpflegerin
Eins machen alle Patienten und Patientinnen, wenn sie sich das erste Mal vor Kamila Walczak auf den Stuhl setzen: sich für ihre Füße entschuldigen. Und Kamila, 40, Fußpflegerin, erklärt dann immer dasselbe: dass es schlimme Füße in ihrer Welt nicht gebe. Also zumindest keine, für die man sich schämen müsse.
In meiner Welt ist das anders. Meine Füße sind mir unangenehm. Die von anderen erst recht. Aber die Scheu vor Käsemauken muss ich überwinden, denn ich bin für einen Tag Kamilas Praktikantin. Ich darf ihr über die Schultern schauen, auf eingewachsene und fehlende Fußnägel, auf verkümmerte kleine Zehen und Hühneraugen. Da kann einem schon mal anders werden.
Kaum hat mir Kamila einen weißen Kittel, Mundschutz und schwarze Handschuhe gereicht, klingelt schon der erste Patient. Ein Herr in orthopädischen Schuhen und beiger Stoffhose. Herr Piepke ist 81 und alle sechs Wochen hier. „Ich komm nicht mehr runter“, erklärt er und deutet in Richtung seiner Schuhe. Erstaunlich unbefangen lässt er sich von mir Schuhe und Strümpfe ausziehen. Ich lasse warmes Wasser in eine Plastikwanne. „Wie immer“, bestellt Herr Piepke, und Kamila gießt ihm ein Glas pinkfarbenen Sekt aus einer Dose ein. Er lässt seine Füße ins Becken gleiten und seufzt. Herr Piepke ist angekommen.
Kamila ist ausgebildete Kosmetikerin. Sie hat an einer Privatschule gelernt. Teil der Ausbildung: die Fußpflege, bei der sie Hornhaut, Krallenzehen, Warzen und andere Beschwerden behandelt. Ihr jüngster Patient ist sieben Jahre alt (eingewachsener Nagel), ihr ältester 103 (Pilznägel). Kamilas Salon, Akacjas Beauty Institut, liegt in Berlin-Neukölln. Der Kiez ist stark durchmischt. „Zu mir kommen Fernsehmoderatorinnen und arme Leute“, sagt Kamila.
„Wie geht’s?“, fragt Kamila. „Am besten gut“, sagt Herr Piepke. Vor Kamila wirken die Menschen verletzlich, fast nackt, dabei ziehen sie nur die Schuhe aus. Es wird schnell persönlich. Herr Piepke bringt sie auf Stand, was seine Eheprobleme angeht, eine andere Patientin erzählte ihr vom Suizid ihres Sohnes. „Viel Fußpflege haben wir in der Sitzung nicht mehr gemacht“, sagt Kamila. Kamila schmirgelt, fräst, poliert, schneidet, wäscht und cremt, aber ihr Geld verdient sie auch mit Reden.
Soweit ich das beurteilen kann, hat Herr Piepke gesunde Füße. Bis auf den großen Zeh, der macht Ärger. Vor Jahren ist ihm auf der Arbeit ein Brett draufgefallen. Seitdem wächst der Nagel nicht mehr richtig. Beim Anblick der Nagelreste wird mir flau. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Kamila schmeißt die Fräse an und entfernt Hornhaut dort, wo normalerweise ein Nagel wachsen würde. Über den Lärm hinweg erklärt sie mir, warum so viele Menschen irgendwann zur Fußpflege müssen: „Meistens ist die Schneidetechnik falsch.“ Nägel müssten gerade abgeschnitten werden, nicht rund. Die Ecken sollen länger stehen bleiben, damit der Nagel nicht einwächst.
Eine medizinische Fußpflege dauert rund 30 Minuten, „40 Minuten bei Katastrophenfüßen“
Kamila nimmt einen Knipser, und schon fliegen Herrn Piepkes Nägel durch den Raum. Eine medizinische Fußpflege dauert rund 30 Minuten, „40 Minuten bei Katastrophenfüßen“, erklärt Kamila. „Ich habe doch aber keine Katastrophenfüße“, mischt sich Herr Piepke ein. Nein, die habe er nicht, beruhigt Kamila. Macht bitte 29 Euro, bis in sechs Wochen. Herr Piepke gibt einen Euro Trinkgeld und einen verspäteten Schoko-Osterhasen. Den stellt Kamila zu den anderen kleinen Geschenken von Patientinnen und Patienten.
Die Nächste ist eine zierliche Rentnerin mit kurzen Haaren. Sie und ihre Frau buchen normalerweise einen Doppeltermin, aber diesen Monat reicht das Geld nicht. Deswegen durfte die mit den größeren Schmerzen gehen: Frau Krock gewinnt, sie hat ein beachtliches Hühnerauge. Sie bestellt eine Tasse Kaffee, die ich in der kleinen Küche für sie zubereite. Kamila setzt sich auf den Drehstuhl, fischt ihre Instrumente aus dem Desinfektionsbad und setzt eine neue Rasierklinge in den Hobel. Dann beginnt sie, Frau Krocks Fersen von Hornhaut zu befreien. „Die Haut muss gelb bleiben“, erklärt sie mir, „wenn sie rot wird, hast du zu viel entfernt.“
Dass sich Frau Krock das Geld für die Behandlung mit Pfandsammeln verdient hat, überrascht Kamila nicht: mehr Hornhaut als gewöhnlich. Jetzt nimmt sie den Fräser, um das Hühnerauge abzutragen. Innerhalb weniger Stunden habe ich mich an den Anblick von Füßen gewöhnt. Als Kamila zum Eckenheber greift, um den Nagelschmand rauszupulen, schaue ich interessiert zu, sogar mit ein wenig Befriedigung: Als Fußpflegerin profitiert man vom Vorher-nachher-Effekt.
Ich leere die Fußwanne aus und frage Kamila, was mir die ganze Zeit schon nicht aus dem Kopf geht. Wie geht sie mit Ekel um? „Runterschlucken“, sagt Kamila. Aber schlucken müsse sie selten. Im Altersheim habe sie schon mal ein offenes Bein oder Käsefüße. Dann erinnere sie sich daran, dass ihr ein Mensch gegenübersitzt, der Hilfe braucht. „Unsere Gesellschaft schaut zu sehr auf Schönheit“, findet Kamila. Einer Fußpflegerin ist nichts Menschliches fremd. Und Kamila liebt die Menschen.
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