Thema – Zahlen

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Das große Messen

Um den Klimawandel zu bekämpfen, braucht es Zahlen. Aber welche? Die Antwort ist eine Grad-Wanderung

Gletscher

Es ist die wahrscheinlich existenziellste politische Zahl unseres Jahrhunderts: Steigt die globale Mitteltemperatur um mehr als 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, werden weite Teile des Planeten unbewohnbar sein.

197 Staaten der Erde haben bislang eine Verpflichtung unterzeichnet, alle Anstrengungen zu unternehmen, es bis zum Jahr 2100 nicht so weit kommen zu lassen – darunter auch Deutschland. Dieses Versprechen gaben sie sich 2015 in Paris. Seitdem ist die Zahl – 1,5 Grad – überall: in Zeitungen, im Fernsehen oder in den Sozialen Medien. Mal eingebettet in Katastrophenszenarien, mal naturwissenschaftlich nüchtern. Aber egal wie: Viel bewirkt hat sie nicht. Der Flugverkehr ist fast wieder auf dem Niveau der Vor-Corona-Zeit, SUVs gehören zu den beliebtesten Autos – und Deutschland verfehlt sein Emissionsziel nach aktuellem Stand deutlich.

Eigentlich muss Deutschland in spätestens 23 Jahren gänzlich klimaneutral sein. Daher gelten für jeden Wirtschaftssektor – ob Energie, Industrie, Gebäude, Abfall, Landwirtschaft oder Verkehr – verbindliche Obergrenzen für Emissionen und Vorgaben zur jährlichen Minderung. Bislang sieht es nicht so aus, als wäre das zu schaffen. Aber nicht nur in Deutschland passiert zu wenig: Eine Studie der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) kam sogar jüngst zu dem Ergebnis, dass die Grenze von 1,5 Grad womöglich schon in den nächsten fünf Jahren überschritten wird. Was nutzt diese Zahl also noch, und wie könnte es gelingen, diese entscheidende planetare Grenze besser zu kommunizieren?

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Wetteraufzeichnung (Foto: Jan Richard Heinicke)

Die Bilder des Artikels zeigen, wie Forschende den Klimawandel messen: Vom Schrumpfen der Gletscher über das Absterben der Korallenriffe bis hin zum Anstieg der Meeresspiegel gibt es viele Indikatoren dafür, wie weit die Erderwärmung fortgeschritten ist

(Foto: Jan Richard Heinicke)

Was Medien und Politik in der Coronapandemie streckenweise gut gelungen sei – das Manövrieren durch eine Krise mit Hilfe von Kennzahlen (Inzidenzen nach Altersgruppen und Regionen, Hospitalisierungsrate, Auslastung der Intensivbetten) –, fehle im Umgang mit der Klimaerwärmung bislang in weiten Teilen, sagt Michael Brüggemann, Professor für Klimakommunikation an der Universität Hamburg.

„Die Zahl 1,5 Grad sagt lediglich, dass sich alles massiv ändern muss, doch niemand bekommt eine Vorstellung, welche Maßnahmen genau heute getroffen werden müssten, um irgendein Ziel im Jahr 2100 zu erreichen.“ Zahlen rund um das Klima seien zwar genügend da – schmelzendes Eis, steigender Meeresspiegel, Hitzerekorde –, doch sie ließen den Menschen und auch die Politik oft hilflos und überfordert zurück, so Brüggemann. Zusammen mit seinem Team untersucht er, welches Wissen über den Klimawandel in der breiten Gesellschaft tatsächlich vorliegt und inwiefern viele Erkenntnisse schnell in Vergessenheit geraten. Die Berichterstattung rund um die Klimakrise sei zwar präsent, verwandle sich aber nur selten in greifbares, längerfristiges Wissen, so das bisherige Fazit.

Wie ließen sich Klimaziele effektiver kommunizieren?

Die Neurowissenschaftlerin und Medienpsychologin Maren Urner wiederum hat festgestellt, dass der Unterschied von einem halben Grad Klimaerwärmung oft als nicht so schlimm wahrgenommen werde. Was zu der weitverbreiteten Fehlannahme geführt habe, dass „2 Grad Erwärmung zwar schlimm sind, aber alles darunter noch okay ist“, so Urner. Dabei ist in diesem halben Grad viel Platz für sogenannte Kipppunkte im globalen Klimasystem: So mehrten sich zuletzt die Vorzeichen, dass Grönlands Eisschild bereits bei 1,6 Grad komplett schmelzen könnte, was einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels um sieben Meter zur Folge hätte. Der Unterschied zwischen 1,5 und 1,6 Grad bestünde darin, dass ganze Länder wie Bangladesch, Inselstaaten im Südpazifik, aber auch zahlreiche Metropolen wie Shanghai, New York oder Hamburg im Meer versinken oder nicht. Dieses Risiko könne den blanken Zahlen – 1,5 und 2 Grad – jedoch niemand ansehen, sagt Urner.

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Die Umwandlung von CO₂ durch Bäume (Foto: Jan Richard Heinicke)
Hier wird die Umwandlung von CO₂ durch Bäume gemessen ... (Foto: Jan Richard Heinicke)

Längst machen sich weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gedanken darüber, wie man mehr Menschen dazu bekommt, ihr Verhalten zu ändern. Zu diesem Thema findet im Herbst in Zürich ein großer Kongress statt, an dem auch Maren Urner als Hauptrednerin teilnimmt. Ihre Arbeit kann unter anderem zeigen, wie sich die Verhaltensmuster der Menschen im Laufe der Coronapandemie änderten – unter anderem durch das Kommunizieren von Zahlen, die mal sehr fern waren (das „chinesische“ Virus) und mal ganz nah an uns dran. Davon kön- ne die Politik im Kampf gegen den Klimawandel lernen, so Urner.

Tatsächlich lassen sich die Erwärmung und die Konsequenzen, die für uns mit der Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze einhergehen würden, ziemlich konkret beschreiben. So geht die Anzahl der Hitzetoten in Deutschland seit Jahren steil nach oben. Ein Temperaturanstieg um 0,5 Grad mehr (also auf 2 Grad) würde zudem gleich doppelt so viele Wirbeltier- und Pflanzenarten weltweit bedrohen. Bei den Insekten sind es sogar dreimal so viele, die von dem halben Grad Erwärmung mehr betroffen wären. „Zahlen müssen einen greifbaren Schaden sichtbar machen und die Perspektive eröffnen, diesen abzuwenden. Abstrakte und ferne Daten sind dagegen nicht geeignet, politisches und privates Handeln anzuleiten“, sagt Klimakommunikationsexperte Brüggemann.

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Ein Mineral aus einer Höhle wird untersucht (Foto: Jan Richard Heinicke)
... und hier ein Mineral aus einer Höhle untersucht (Foto: Jan Richard Heinicke)

Auch Mirjam Jenny will verstehen, welche Zahlen rund um das Klima die Menschen wirklich bewegen und welche sie kalt lassen. Jenny ist Psychologin mit Schwerpunkt auf Risiko- und Gesundheitskommunikation im Kontext der Klimakrise und berät u. a. die Weltgesundheitsorganisation WHO. „Verstehen wir den Verursacher und einzig möglichen Bekämpfer der Klimakrise psychologisch besser, lassen sich aktuelle Zahlen rund um die Erwärmung des Planeten auch wirksamer verbreiten“, sagt sie. Krisenkommunikation verpuffe, wenn sie auf der Vorstellung beruhe, dass die Gesellschaft nur mehr Fakten über das Klima benötige, um dann schon angemessen handeln zu können. So zentral die 1,5-Grad-Grenze zweifelsohne sei, so wenig helfe sie weiter, wenn ihre mediale und politische Vermittlung nicht von der menschlichen Psyche her gedacht werde.

In einem sind sich die Forschenden rund um die Frage einer wirksameren Klimakommunikation ziemlich einig: Wer immer nur Katastrophen an die Wand malt, stößt schneller auf taube Ohren. Sinnvoller wäre es, den Menschen nicht nur klarzumachen, was sie alles verlieren – sondern auch, was es zu gewinnen gibt. Aus einem „Wogegen“ würde so ein „Wofür“. Nicht nur gegen Hitze, Dürre und Extremwetter, sondern für ein gesünderes Leben auf einem lebenswerten Planeten Erde. Das wäre dann quasi das Gesunde-Welt-Ziel.

Titelbild: Thorsten Klapsch

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