Wackelndes Kartenhaus aus Kreditkarten

Alles auf Pump

Kreditkartenschulden gehören für die meisten in den USA zum Leben dazu. Finanzinfluencer und Onlineschuldenberaterinnen wollen helfen – und profitieren gleichzeitig von dem wachsenden Problem

Von Sarah Sendner
8. April 2025

Caleb Hammer reibt sich entnervt die Augen, sammelt sich dann theatralisch. „Kommen meine Worte nicht an deiner Tischseite an?!“, blafft er seinen Gast an. Ihm gegenüber sitzt eine junge Frau vor einem Mikrofon. „Warum hast du diese Rechnung nicht bezahlt, ANSTATT 900 Dollar für Bullshit auszugeben?“, schreit er. 

Caleb ist Finanzinfluencer und TikToker – seine Expertise schöpft er aus eigener Erfahrung im Kampf gegen die Schulden. In seinem Podcast und TikTok-Kanal studiert er die Kontoauszüge seiner teils hochverschuldeten Gäste: Jedes Abendessen, jeder Shopping-Trip, jedes Streamingdienst-Abo nimmt er unter die Lupe. Er rauft sich wegen der frivolen Ausgaben die Haare, wirft seinen Gäst:innen Verantwortungslosigkeit und Dummheit vor und versucht sie so zum Umdenken zu animieren. Es sind meist junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschichten. Was sie eint: Sie alle haben einen Berg an Schulden.

Caleb Hammer hat mehr als eine Million Follower:innen, seine Videos mehr als 56 Millionen Likes. Neben ihm gibt es noch eine ganze Reihe anderer Creator auf TikTok, die sich mit den Themen Schulden und Finanzen beschäftigen. Und viele Nutzer:innen teilen ihre Erfahrungen mit Kreditkarten oder Studienschulden. Wie sie ihre finanzielle Situation belastet und wie sie aus dem Schuldensumpf wieder herausgekommen sind. 

6.500 Dollar Schulden pro Person

Mit Blick auf die Zahlen zu Schulden in den USA überrascht das wenig. Die Kreditkartenschulden der Amerikaner:innen haben 2023 zum ersten Mal die Marke von einer Billion US-Dollar überschritten. Im Durchschnitt hat jeder US-Amerikaner und jede US-Amerikanerin laut dem Finanzdienst Experian Kreditkartenschulden in Höhe von 6.500 Dollar. Weitaus mehr als in Deutschland, wo Kreditkarten längst nicht so beliebt sind wie in den Staaten. Während in Deutschland 2023 rund 35 Millionen Karten im Umlauf waren, wird die Zahl der zirkulierenden US-Kreditkarten auf mindestens 800 Millionen geschätzt. In Deutschland besitzt also nur rund jeder und jede Zweite überhaupt eine Kreditkarte, während es in den USA mehr Karten als Einwohner:innen gibt.

Das amerikanische Problem hat viele Gründe. Der wichtigste ist wohl der sogenannte Credit Score, den sich US- Verbraucher:innen zum Nachweis der Kreditwürdigkeit aufbauen müssen. Das geht aber nur über den Besitz und Gebrauch von Kreditkarten – und zwar zwingend gleich mehreren. Wer mehrere Karten verantwortungsvoll nutzt und seine Rechnungen fristgerecht bezahlt, baut sich einen guten Credit Score auf. Der ist wichtig in vielen Lebensbereichen. Beim Haus- oder Autokauf, beim Abschließen von Versicherungen und anderen Verträgen und auch beim Mieten einer Wohnung. Cashback-Programme und Punktesysteme stellen zusätzliche Anreize dar, Kreditkarten anstelle anderer Zahlungsmittel zu nutzen. Zudem statten die Banken ihre Kund:innen gerne schnell mit hohen Kreditrahmen aus: Viele haben dann eine Kreditsumme im fünfstelligen Bereich zur Verfügung – oft wesentlich mehr, als sie verdienen. Beste Voraussetzungen, in eine Schuldenfalle zu geraten und zu vergessen, dass das ausgegebene, virtuell erscheinende Geld ganz real ist. Und auch wieder zurückbezahlt werden muss.

Überschuldung ist auch in Deutschland gestiegen

Ganz ähnlich sind die emotionalen Fallstricke von Klarna und anderen Laterpay-Angeboten. Diese sind auch in Deutschland sehr beliebt und können für viele Menschen zur Schuldenfalle werden. Das führt dazu, dass manche Verbraucher:innen früher oder später auch ihre Alltagsausgaben über Kreditkarten und andere Schulden finanzieren. Wie viel Zinsen sie dabei anhäufen und welchen Betrag sie wann bezahlen müssen – das ist ihnen oft nicht klar. Die Überschuldungsquote der unter 30-Jährigen ist laut „SchuldnerAtlas“ in Deutschland gestiegen und liegt bei etwa 740.000 Fällen. 

Jamie Feldman kennt das Problem gut. In ihrem Leben gab es einen Zeitpunkt, an dem sie rund 20.000 Dollar Kreditkartenschulden hatte. Zurzeit sind davon noch etwa 7.000 Dollar übrig. 

Heute ist Jamie 35 Jahre alt. Sie ist im New Yorker Stadtteil Queens aufgewachsen und hat Kommunikation studiert. Nach dem Studium schrieb sie beim Onlineportal „Huffington Post“. Sieben Jahre lang hatte sie ein festes Einkommen, bis sie 2021 gekündigt wurde. Heute arbeitet sie als Freelancer und Podcasterin.

„Ich war so ignorant gegenüber meinen eigenen Schulden, dass ich die genaue Summe gar nicht kannte“

Ich treffe Jamie an einem schwülen Tag im Sommer 2024 im Brooklyn Navy Yard. Das weitläufige Industriegebiet direkt am Wasser beherbergt viele Büros und Co-Working-Spaces. Sie und ihre Businesspartnerin haben sich hier eingemietet. Wir verabreden uns zum Mittagessen im Foodcourt, essen Pizza in einer durchgestylten Kantine. In unserem Gespräch geht es viel um harte Zahlen. Um Budgets, Kreditlimits, Zinssätze und Zahlpläne. Doch in alldem steckt eine ganze Menge Emotionen. Jamie hat ihren Schuldenberg lange ignoriert. Sich des Problems anzunehmen, war also auch eine mentale Aufgabe. „Mein erster Schritt war es, meinen Schuldenberg anzuerkennen.“ Für sie waren ihre Schulden lange Zeit ein abstraktes Problem. Eines, um das sie sich irgendwann einmal kümmern werde, erinnert sie sich zurück.

„Ich war so ignorant gegenüber meinen eigenen Schulden, dass ich die genaue Summe gar nicht kannte.“ So bezifferte sie ihre Schuldensumme lange Zeit auf 14.000 Dollar. Dann tauchte eine weitere unbezahlte Kreditkarte auf, die sie vergessen und mit der sie in der Zwischenzeit weitere Zinsen angehäuft hatte. 

Die American Psychological Association beschreibt das Phänomen: Überwältigt vom Schuldenberg ignorieren viele Menschen ihre Probleme und verschlimmern sie damit. Selbst in Umfragen unter Absolvent:innen der Psychologie zeigte sich, dass viele sich durch die Scham der roten Zahlen isoliert fühlten und lieber „nicht darüber nachdenken“ wollen. Ungelöste finanzielle Probleme, das zeigen Untersuchungen, wirken sich negativ auf die mentale Gesundheit von Menschen aus und generieren in der Folge noch mehr finanzielle Probleme. Ein Teufelskreis.

Mittlerweile versucht Jamie selbst, mit ihrem Content Menschen zu helfen

Offen über Finanzen zu sprechen, kann helfen. So war es auch bei Jamie: Sie vertraute sich einer engen Freundin an, die ihr schließlich half, ein genaues Budget aufzustellen, mit dem sie ihre Schulden schließlich abbezahlen könnte. Jamie verfolgt eine Methode, bei der sie so viel Geld wie möglich monatlich spart, um zuallererst den größten Schuldenposten mit den höchsten Zinsen zu tilgen. 

Dann vertraute sie sich noch mehr Menschen an: auf TikTok. Mittlerweile versucht Jamie selbst, mit ihrem Content Menschen zu helfen. Dabei setzt sie aber auf andere Methoden als viele ihrer Mitstreiter. Den rauen, oft angreifenden Ton, den viele auf Social Media anschlagen, lehnt sie ab. „Die Menschen schämen sich und sehen ihre Schulden als moralisches Versagen“, gibt sie zu bedenken. Das möchte sie ändern.

Auch liege die Betonung oftmals sehr stark auf dem persönlichen Verhalten verschuldeter Menschen, kritisiert sie. Dabei lasse es persönliche Umstände außer Betracht. Und auch, dass das Credit-Score-System regelrecht dazu animiert, Schulden aufzunehmen, um die zum Teil sehr hohen Lebenshaltungskosten in den USA zu bezahlen.

Schulden richtig zu managen, wird den wenigsten beigebracht

Verbraucher:innenschulden belasten Menschen überall auf der Welt. Ein Mix aus Scham, mangelnder Information und Verschwiegenheit treibt viele Menschen in die Krise, besonders wenn Kredite leichtfertig ausgehändigt werden. Schulden richtig zu managen – das ist Teil des Erwachsenseins –, wird aber den wenigsten wirklich beigebracht. In Deutschland gibt es in zahlreichen Städten Schuldnerberatungsstellen von Wohlfahrtsverbänden oder Verbraucherzentralen. Dabei wird unter anderem geprüft, wie hoch die Schulden tatsächlich sind, es wird geschaut, wo man sparen kann, und es kann versucht werden, mit den Gläubiger:innen zu verhandeln oder ein gerichtliches Insolvenzverfahren zu beantragen. Als Kriterien für eine gute Beratung gilt häufig, dass sie kostenlos, freiwillig, persönlich und gut verständlich ist. 

Für Jamie hingegen ist TikTok ein guter Ort, um die Schuldenspirale zu durchbrechen. „Das Besondere an TikTok im Vergleich zu Instagram ist, dass die Menschen dort Wert auf Authentizität legen“, findet sie. 

#loudbudgeting, #personalfinance und #debttok: In den sozialen Netzwerken wird das Aufbegehren gegen den konventionellen Umgang mit Geld deutlich. Für selbst ernannte Schuldnerberater:innen liegt hier die Chance auf ein lukratives Geschäft: Denn sie profitieren von den hohen Klickzahlen, verkaufen Coachings und Merch.

Für Betroffene können manche der Inhalte eine echte Hilfe sein – wenn die richtigen Worte gefunden werden. „Ich habe nicht mit TikTok angefangen, um den Leuten finanziellen Rat zu geben“, sagt Jamie. „Ich will den Leuten nur helfen, sich gesehen zu fühlen.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

Illustration: Alexander Glandien