Daniel* ist 26. Er hat weiche Gesichtszüge, nicht so wie die anderen, die schon als Kind auf dem Feld gearbeitet haben. Nur die Pigmentstörungen auf seinen Armen zeigen, wo er herkommt. Die Flecken hat das Glyphosat dort hinterlassen. Gerade hat er sein Filmstudium abgeschlossen. Auf dem Campus der Universität in Medellín hat sich rumgesprochen, dass er einen außergewöhnlichen Kurzfilm gemacht hat. Dass der seine Geschichte erzählt, wissen nur wenige.
Sie beginnt 1993. Daniel wächst in Putumayo auf, im Süden Kolumbiens. Die Menschen hier führen einfache Leben. Sie arbeiten für große Erdölfirmen oder als Viehzüchter, wenige verdienen gut, den anderen bleibt der illegale Kokaanbau. Rund 70 Prozent des weltweiten Kokains stammen aus Kolumbien, große Teile davon aus der Region um Putumayo. Dass Daniels Stiefvater auf 80 Hektar Koka anpflanzt, wundert hier niemanden.
Er und seine Arbeiter pflücken die Blätter und verarbeiten sie zur Basispaste für Kokain. Schon als Fünfjähriger spielt Daniel im Labor, während um ihn herum mit giftigen Chemikalien hantiert wird. Er lernt das Handwerk von klein auf. „Für mich war der Anbau von Koka immer ganz normal, so wie für andere Bauern Kaffee oder Mais“, sagt Daniel.
Den ersten Glyphosat-Angriff erlebt Daniel mit zehn. Danach ist alles anders
Als er sechs ist, zeigt ihm sein Stiefvater, wo das Geld versteckt ist. Nur für den Fall, dass ihm eines Tages etwas zustoßen sollte. Mit jedem Jahr produziert die Familie mehr, über ein Dutzend Arbeiter helfen bei der Ernte. Der Stiefvater betreibt auch eine Billardkneipe im Dorf. Hier wissen alle, warum es der Region so gut geht, aber keiner spricht darüber.
Immer den Nasen nach: Wie Tonnen Kokain nach Europa geschmuggelt werden
Neugierige Fragen stellt Daniel im Labor. Was aus den Kokapflanzen wird? Nach sieben Monaten die erste Ernte, sagen die Arbeiter. Dann ein weißes Pulver. Wohin das Pulver geht? Die Arbeiter lachen. Das sei für die Gringos. Daniel stellt sich die Blonden vor, wie sie das Pulver ziehen und ihr Gringo-Geld rüberreichen. Auf der Straße zahle man 2.200 Pesos (Anm. d. Red.: umgerechnet 60 Cent) für ein Gramm.
Die großen Pesos aber, sagen die Erwachsenen, die werden woanders gemacht. Und dass Daniel sich nie etwas vom Pulver nehmen dürfe, weil er sonst umgebracht werde. Und dass er nie mit der Polizei reden solle. Schweigen sei wichtig, wenn Daniel seiner Familie keinen Schaden zufügen will.
Der Schaden fällt Jahre später vom Himmel. Daniel ist zehn, als der „Plan Colombia“, ein US-finanziertes Drogenbekämpfungsprogramm der kolumbianischen Regierung, die Finca der Familie zum ersten Mal trifft. Aus Helikoptern wird Glyphosat versprüht, ein Herbizid, das im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Vermummte Soldaten richten ihre Waffen auf die Feldarbeiter, während der weiße Nebel das Grundstück einhüllt. „Bedeck dein Gesicht“, ruft seine Mutter. Daniel rennt.
Am nächsten Tag ist alles anders. Vom Glyphosat sind die Kokapflanzen ganz gelb geworden. Die Ernten sind zerstört.
Damit die Familie künftig auf den Kokaanbau verzichtet, erhielt sie vom Staat ein paar Kühe und Werkzeuge, erinnert sich Daniel. Doch die reichen nicht: Ohne den illegalen Anbau verschwinden die Arbeiter, Nachbarn ziehen weg, mancher Kokabauer versucht sich als Taxifahrer. Ein paar wenige hätten es damals geschafft, sagt Daniel, sich mit Mais und Reis selbst zu versorgen. „Aber wer ist schon damit zufrieden, nicht zu verhungern, wenn er vorher einen anderen Lebensstandard hatte?“
Über 50 Jahre führten die kolumbianische Regierung, Guerillas wie FARC oder ELN und paramilitärische rechte Gruppen einen Bürgerkrieg, der mindestens 220.000 Todesopfer forderte. Der Konflikt war eng mit den Drogen verbunden: Guerillas und Paramilitärs finanzierten ihre Kämpfe unter anderem über den Kokainhandel und die Kontrolle der Anbaugebiete – und tun das zum Teil bis heute. Seit 2016 herrscht Frieden zwischen FARC und Staat, allerdings nur auf dem Papier: Der Rückzug der FARC hat in etlichen Regionen Kolumbiens ein Machtvakuum erzeugt, das FARC-Abtrünnige, Paramilitärs und Guerillas gewaltsam füllen wollen. Der Frieden in Kolumbien ist dementsprechend labil.
2012, zweieinhalb Jahre nach dem ersten Glyphosatangriff, wachsen auf den Feldern der Familie wieder Kokapflanzen. Der Staat reagiert unentschlossen: Alle paar Wochen kommen kolumbianische Militärs auf die Finca. Wenn Daniels Familie Glück hat, hören die Soldaten auf ihre Bitten, zerstören nur wenige Kokapflanzen, machen Fotos vom Anbau und ziehen wieder ab. Sie wissen, dass der Staat die Bauern zu wenig unterstützt, um vom Drogenanbau loszukommen. Währenddessen spitzt sich der Bürgerkrieg zwischen der linken FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung zu.
Daniels Zukunftsoptionen: Guerilla-Kämpfer, Erntehelfer oder Student
Daniel schließt die Dorfschule mit der neunten Klasse ab. Auf junge Männer wie ihn wartet das zerstrittene Land: Paramilitärs, die kolumbianische Armee und die FARC wollen ihn rekrutieren. Für seine Zukunft sieht Daniel drei Optionen: Er schließt sich einer der bewaffneten Gruppen an. Er erntet weiter Koka. Oder er zieht ins Internat, um Abitur zu machen. „Wofür willst du studieren, wenn es Kokain gibt?“, fragen seine Freunde. Doch Daniel fürchtet die Gewalt. Er zieht ins Internat.
An der Schule versteht er sich gut mit einer Sozialarbeiterin, die von der Universität von Antioquia in Medellín schwärmt. Daniel ist sofort begeistert: Das Internat war die richtige Entscheidung, warum sollte er es nicht an der Uni probieren? 2010 macht er sein Abitur und besteht im dritten Anlauf den Aufnahmetest.
Im Dorf galt: Wer am meisten hat, wird am meisten respektiert. In der Zweieinhalb-Millionen-Metropole Medellín gilt: Wer am meisten hat, muss ein Narco sein. Daniel verschweigt die Finca, die Felder, die Arbeit seiner Eltern. „Dabei hatte ich früher nie das Gefühl, etwas Schlechtes zu machen. Es war gut, weil wir gut davon leben konnten“, sagt er. Dank des Kokageldes konnte Daniel schließlich Abitur machen und studieren.
Diesen Konflikt der Menschen in den Kokaregionen will Daniel deutlich machen. Er war einer der Gründe, Film zu studieren. Daniels Abschlussfilm zeigt, wie selbstverständlich er mitten in einer Drogenfabrikation aufwuchs. Und wie schwierig es für die Menschen in Putumayo ist, Alternativen zum Koka zu finden.
Daniel hat den Film bislang nur in der Uni gezeigt und auf kleinen Festivals. Aber nicht bei sich zu Hause, im Dorf. Verändert hat sich dort nichts, seine Familie baut heute noch mehr Koka an als früher. Und Daniels fünfjähriger Neffe hat vor kurzem angefangen, bei der Ernte zu helfen.
* Unsere Autor*innen lernten Daniel bei einem Auslandssemester in Medellín kennen. In den Koka-Dörfern sind Aussteiger selten – und nicht von allen gern gesehen. Deshalb haben wir Daniels Namen auf seinen Wunsch hin geändert.
Fotos: Edinson Iván Arroyo Mora