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Rot heißt grausen, grün heißt schmausen

Jahrelang stritten Lebensmittelindustrie und Verbraucherschützer über eine Nährwertkennzeichnung. Nun ist beschlossen: Deutschland bekommt den Nutri-Score

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Bis in den September hinein liefen sie, die Umfragen des Landwirtschaftsministeriums: 1.600 Konsumenten und Konsumentinnen sollten bei der Entscheidung helfen, welches Nährwertlogo künftig eine schnelle Orientierung für bewussteres Einkaufen geben soll. Die meisten sprachen sich nun für den Nutri-Score aus, auch Lebensmittelampel genannt, den Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) 2020 auf freiwilliger Basis einführen will. 

Was soll das Label bringen?

Ärzte und Verbraucherschützer fordern schon lange ein verlässliches und sichtbares Label für Kunden, die sich gesund ernähren wollen. Dafür gibt es gewichtige Gründe: 62 Prozent der Männer, 43 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland waren 2017 nach dem Body-Mass-Index (BMI) übergewichtig. 

Bislang führen Lebensmittelverpackungen oft in die Irre: Joghurts zeigen Früchte, Müsliriegel Haferähren, Schokoladenriegel frische Milch. Das suggeriert, dass das entsprechende Produkt auch gesund ist. Wer im Supermarkt aber eine Packung Chips oder eine Tiefkühlpizza in die Hand nimmt, soll erkennen können, woran er wirklich ist. 

 

Gibt es das nicht schon längst?

Jein. Seit Ende 2016 müssen Lebensmittelhersteller EU-weit umfangreich auf der Verpackung über ihre Produkte informieren. Dazu gehört die Auflistung sämtlicher Zutaten (sortiert nach dem Anteil am Gesamtgewicht, inklusive Farb- und Aromastoffen) sowie eine Nährwerttabelle, in der der Gehalt an Energie, Fett, Kohlenhydraten mit Zucker, Ballaststoffen, Eiweiß und Salz eines Produktes aufgeschlüsselt wird. So sollen Kunden erkennen können, dass in 100 Gramm Spaghetti vor allem Kohlenhydrate, in einer Tafel Schokolade vor allem Zucker und Fette stecken. Das Problem bei der Nährwerttabelle: Die Kunden müssen sich die Mühe machen, die oft klein gedruckten Tabellen auf der Verpackungsrückseite genau zu studieren. Das neue Label soll Lebensmittel leichter vergleichbar machen. Zudem soll es gut sichtbar auf der Vorderseite der jeweiligen Verpackung platziert werden. 

Welche Modelle standen zur Auswahl?

Gewonnen hat mit dem Nutri-Score das wohl eingängigste Label, eine in Frankreich, Belgien und Spanien verbreitete Lebensmittelampel mit fünf Farbstufen von Dunkelgrün bis Rot. Im Gegensatz zu komplexeren Modellen gibt der Nutri-Score eine Gesamtbewertung ab. Neben Zucker-, Fett- und Salzgehalt werden aber auch empfehlenswerte Bestandteile wie Ballaststoffe oder Proteine bewertet. Der Nutri-Score zeigt also an, wie ausgewogen ein Produkt ist. Auch andere EU-Länder wie Luxemburg und Portugal planen, den Nutri-Score einzuführen. Ein Nachteil: Er berechnet nicht alle Stoffe mit ein. Gesunde Vitamine bleiben genauso außen vor wie ungesunde Süßstoffe. Und: Wer zum Beispiel nur auf Salz verzichten möchte, der muss weiter auf die Nährwerttabelle auf der Rückseite schauen.

Auch unter die Top 4 des Landwirtschaftsministeriums geschafft hat es ein in mehreren nordeuropäischen Ländern verbreitete Logo namens Keyhole. Auf ihm ist ein weißes Schlüsselloch auf grünem Grund zu sehen. Die Kriterien für das Logo setzen sich je nach Lebensmittelgruppe unterschiedlich zusammen. Nachteil: Das Keyhole ist ein reines Positivzeichen. Das heißt, dass nur die „gesunden“ Produkte es tragen dürfen. Fehlt es, weiß der Kunde nicht, ob der Hersteller nicht mitmacht, das Produkt den Grenzwert knapp verpasst hat oder als besonders ungesund bewertet wurde. 

Das dritte infrage kommende Nährwertlogo war das in diesem Jahr entwickelte BLL-Modell der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Es erinnert an den Geometrieunterricht, der verantwortliche Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) (heute: Lebensmittelverband Deutschland) spricht selbst vom Torten-Modell. In fünf nebeneinanderliegenden Kreisen wird der Anteil an Kalorien, Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz pro 100 Gramm des Produkts am täglichen Bedarf eines durchschnittlichen Erwachsenen angezeigt. Das Modell liefert viele Informationen. Der Nachteil: Es dürfte vielen zu komplex für eine schnelle Einkaufsentscheidung sein.

Ebenfalls erst vor wenigen Monaten entstanden: der vom staatlichen Max Rubner-Institut (MRI) erarbeitete Wegweiser Ernährung, auch „Waben-Modell“ genannt. Laut den beteiligten Wissenschaftlern soll es die Stärken verschiedener Modelle verbinden. So zeigt es neben einer Gesamtbewertung aus maximal fünf Sternen den Gehalt an Kalorien, Zucker, Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz pro 100 Gramm in separaten Waben an. Ist ein Wert niedrig, wird die Wabe grünblau unterlegt. Sind viele Waben unterlegt, steigt die Zahl der Sterne. 

Wie geht es nun weiter?

Während einige medizinische Fachorganisationen den Nutri-Score als verständlichstes Label befürworten, lehnt es der Branchenverband der deutschen Lebensmittelindustrie entschieden ab: Eine Ampel, so kritisierte der damalige BLL-Chef Stephan Nießner im April, würde eine Kaufempfehlung suggerieren. Trotz ihrer früheren Skepsis will die Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner das Umfrageergebnis respektieren und den Nutri-Score 2020 einführen. Allerdings: Das Label ist freiwillig. Nur wenn es europaweit eingeführt wird, muss es auch verpflichtend auf Verpackungen gedruckt werden. Verbraucherschützer fordern die Landwirtschaftsministerin auf, sich nun auf europäischer Ebene dafür starkzumachen.

Titelbild: Kirill Golovchenko / Agentur Focus

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.