Musik ist die vielleicht emotionalste Kunstgattung, die der Mensch je hervorgebracht hat. Sie versetzt uns seit Jahrtausenden in Ekstase. Oder rührt uns zu Tränen. Vom Säuglingsalter an reagiert jeder Mensch instinktiv und emotional auf Musik. Eine ganz natürliche Sache. An der aber so ziemlich alles komplett berechenbar ist: Warum uns ein Rhythmus in die Beine fährt zum Beispiel oder warum uns ein bestimmter Akkord wehmütig macht – all das hat mit einem komplexen System aus Zahlen zu tun.
Denn Musik ist im Kern nichts als reine Mathematik: messbare Luftschwingungen. Je schneller die Teilchen schwingen, desto höher die Frequenz, desto höher der Ton, den wir hören. Der tiefste Grundton eines Cellos liegt zum Beispiel bei 65 Hertz (Hz), das deutsche Telefonfreizeichen bei ungefähr 425 Hz, eine Piccoloflöte erreicht ihren höchsten Grundton bei etwa 4.200 Hz. Welche Töne – in westlichen Ohren – „harmonisch“ zusammenklingen, folgt mathematischen Regeln, die Pythagoras bereits vor 2.500 Jahren entdeckte. Je einfacher das Zahlenverhältnis der Frequenzen zwischen zwei Tönen, desto besser, reiner und wesensverwandter klingen sie: Verdoppelt man die Frequenz des einen Tons, hat man eine reine Oktave, im Verhältnis 3:2 eine reine Quinte. Was die alten Griechen schon wussten und Komponisten wie Bach und Mozart später verfeinerten, gilt für die Songs von Beyoncé und Justin Bieber immer noch.
Auch andere Kulturen musizieren mit einem Tonsystem aus Grundtönen und als harmonisch empfundenen Abständen, die sich in den Einzelheiten aber stark unterscheiden: Während sich die europäische Oktave in zwölf Halbtonschritte unterteilt, besteht die arabische wahlweise aus 17, 19 oder 24 ungleichmäßigen Intervallen. Diese Vierteltöne erscheinen uns in Europa fremd. Noch anders funktioniert es in chinesischen, indischen oder afrikanischen Tonsystemen südlich der Sahara.
Viele Hits folgen einer Formel
Musiker sind Mathematiker, manchmal ohne es zu wissen. Sie bauen komplexe Strukturen aus Melodien und Harmonien, Takten und Tonarten. Denkt man sich in ihre Systematik hinein, ist Musik eine Anordnung von Zahlenreihen, Zählweisen und proportionalen Verhältnissen. Je nachdem, wie lang ein Ton gespielt wird, gibt es wie beim Bruchrechnen in der Schule ganze, halbe, Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnoten. Und je nachdem, wie groß die Abstände zwischen den einzelnen Tönen auf einer Tonleiter sind (oder genauer: wie viele Halbtöne zwischen einem Dreiklang liegen), klingt ein Stück hell, klar und fröhlich (Dur) oder eher dunkel und traurig (Moll).
Daraus ergeben sich sehr, sehr viele Kombinationsmöglichkeiten. Dass die Songs im Radio dennoch oft ziemlich gleich klingen, hat damit zu tun, dass sich ganz gut berechnen lässt, welche Formeln und Muster uns an Musik berühren. Forscherinnen und Forscher haben einige Akkordfolgen identifiziert, die die Basis vieler Songs sind, die zu Hits wurden. Lenas „Satellite“ oder Helene Fischers „Atemlos“ folgen dem „Four-Chord“-Schema C-Dur / G-Dur / a-Moll / F-Dur. Auch die Beatles setzten schon auf dessen Ohrwurmqualität.
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Berührend kann aber auch ein plötzlicher Lautstärkewechsel sein. Oder sogenannte Synkopen, wie sie oft in Jazz, Funk und Reggae vorkommen: Diese Musik empfinden wir nur deswegen als schwungvoller und weniger mechanisch, weil der Rhythmus anders als beim starren Viervierteltakt der Marschmusik leicht verschoben ist – beziehungsweise die Betonung zwischen den Taktschwerpunkten liegt. Es wird also einfach anders gezählt. Mit der Disco- und elektronischen Tanzmusik erlebte aber der gleichmäßig betonte Rhythmus als „4-to-the-floor“ ab den Siebzigern ein Revival.
Wichtig ist natürlich auch, wie schnell oder langsam ein Song ist. Wer sich von Musik antreiben lassen will – beim Joggen oder auf einer Dubstep-Party –, hört am besten 140 Beats per minute, kurz BPM. Härterer Techno in den Clubs ist mit 160 BPM etwas schneller. Herzmassagen funktionieren mit dem Rhythmus von Songs mit einem Tempo von 100 bis 120 BPM besonders gut, also etwa mit „Stayin’ Alive“ von den Bee Gees oder „Dancing Queen“ von Abba.
Zwischen 2012 und 2017 wurden die meisten Popsongs immer langsamer: Das durchschnittliche Tempo der 25 erfolgreichsten Tracks auf Spotify ging von 113,5 auf 90,5 BPM zurück. Erklären kann man das unter anderem mit der kulturellen Dominanz von Hip-Hop, der schon immer langsamer war als andere Genres. Zudem wurden zwischenzeitlich viel mehr Songs in Moll- als in Dur-Tonarten geschrieben als zum Beispiel in den Sechzigern.
Mittlerweile scheint sich der Trend aber wieder umzukehren: Heute liegt das durchschnittliche Tempo von erfolgreichen Songs auf Spotify wieder bei 122 BPM. Die Vermutung ist, dass härtere Zeiten auch dazu führen können, dass wir uns mit positiven, schnellen Songs ablenken wollen.
Auch außerhalb der Musiklehre spielen Zahlen in der Popmusik eine große Rolle, weil technische Veränderungen sie stets genauso prägten wie die kreativen Entscheidungen der Musiker. Dass die meisten Popsongs um die drei Minuten dauern, ist kein Zufall: Song- und Albumlängen (und damit auch ihr Aufbau) veränderten sich mit den Speichermedien. Auf eine Schallplatte passte früher eben nur eine begrenzte Länge: zum Beispiel rund viereinhalb Minuten auf eine Sieben-Inch-Single bei 45 Umdrehungen pro Minute. Mit der Weiterentwicklung der Tonträger wurden Popsongs bis in die Neunziger immer länger und mit üppigeren Intros und Bridges ausgestattet. Seit ein paar Jahren – mit dem Erfolg von Spotify und TikTok – werden sie wieder viel kürzer. Etwa 80 Prozent der meistgestreamten Songs sind heute unter vier Minuten lang. Wer nicht geskippt werden will, muss schnell zum Punkt kommen.
Titelbild: Elina-Alem Kent