Düstere Beats, Autotune, traurig-wütende Lyrics. „Ist alles nur Schein, deshalb mach ich’s allein / Denn wer hält schon sein Wort in der Szene?“, rappt Aylo. „Wer trägt Schwarz“ ist ihre sechste Single. Vor einem Jahr noch dachte Aylo, 22, es sei vorbei mit ihrer Musikkarriere – bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Seit sie 16 Jahre alt war, bastelte Aylo – bürgerlich Aylin – an Beats herum: „Ich wusste: Ich will Musik machen. Aber in meinem Umfeld hatte niemand mit Musik zu tun.“ Langsam baute sie sich Kontakte auf, lernte Leute aus dem Business kennen, auch solche, die ihr versprachen, sie unter Vertrag zu nehmen. „Und dann ist alles in die Hose gegangen.“ Kein Support, kein Vertrag, keine Platte.
Dann meinte ein Kumpel zu ihr, sie solle sich bei TikTok anmelden. Dass die App die meisten Downloads in kürzester Zeit und eine rasant wachsende Community verzeichnen konnte, überzeugte Aylo nicht: „TikTok ist für mich cringe gewesen.“ Doch eines Abends stellte sie trotzdem ihr Handy auf, aß einen Cookie, rappte darüber und lud es hoch. Das Video ging viral. Plötzlich folgten ihr mehrere Tausend Leute. Tendenz steigend.
Plattenfirmen suchen auf TikTok nicht nur nach musikalischen Talenten
Die „For You“-Seite von TikTok zeigt den User*innen Videos, durch die sie endlos weiterscrollen können. Der Algorithmus lernt dabei, was bei den einzelnen Leuten gut ankommt, und passt seine Vorschläge an. Durch dieses Prinzip konnte Aylo mit nur einem Video und anfangs ohne Follower*innen Tausende Menschen erreichen. Seitdem nimmt sie die Leute auf TikTok mit in ihrem Alltag oder promotet ihre Musik.
TikTok hat die Art, wie mit Musik interagiert wird, verändert und ist zu einem eigenen Entertainment-Format geworden. Natürlich gibt es auch Videos, in denen die Musik nebensächlich ist, aber meist ist sie der Mittelpunkt des Clips. TikTok und den Musiklabels sind gute Beziehungen zueinander wichtig: Die Plattform will ihren User*innen urheberrechtlich geschützte Songs zur Verfügung stellen; die Rechteinhaber und Verwertungsgesellschaften, dass ihre Stücke gepusht werden. Plattenfirmen ermutigen ihre Künstler*innen, sich in der App kreativ zu präsentieren, ihre Musik zu bewerben und die Beziehung zu den Fans zu pflegen. Scouts der Plattenfirmen treiben sich auf der Plattform herum und halten Ausschau – nicht immer nach großen musikalischen Talenten, manchmal reicht es schon, jung zu sein und eine große Reichweite zu haben. Dass große TikTok-Stars die Gelegenheit bekommen, professionell Musik zu veröffentlichen – teils ohne selbst am Schreiben der Songs beteiligt zu sein –, sieht Aylo jedoch kritisch: „Da geht es um Geld statt Herzblut.“
In Aylos TikTok-Kanal geht es um ihren eigenen Alltag. Komisch, dass ein beflügelnder Energydrink fast immer eine Rolle spielt …
Für die Musikfirmen ist TikTok zum wichtigen Werbemarkt geworden, schließlich entscheidet die Community darüber, welche Songs in der wirklichen Welt zu Hits werden: „Old Town Road“ von Lil Nas X war erst auf TikTok erfolgreich und hielt sich anschließend 19 Wochen auf Platz eins der Billboard-Charts, ein neuer Rekord. „Truth Hurts“ von Lizzo kletterte zwei Jahre nach seinem eigentlichen Erscheinen für sieben Wochen an die Spitze. TikTok schafft es, Songs einen zweiten – oder auch einen ersten – Frühling zu bescheren.
„Wenn du ’nen Track schreibst, denkst du dir: Okay, könnte das jetzt ein Meme werden?“
Entscheidend für den Erfolg eines Tracks – oder besser gesagt: der 15 Sekunden davon – ist, wie „memeable“ er ist. Also wie geeignet die Lyrics sind, sie pantomimisch oder tanzend zu performen – oder in Slapstick zu verwandeln. Lizzos Songzeile „I just took a DNA test, turns out I’m 100 % that bitch“ war so ein perfekter 15-Sekunden-Ausschnitt und ging viral. Manchmal passiert das zufällig, manchmal ist es kalkuliertes Marketing. Es werden gezielt Hashtag-Challenges (z.B. #dubistmein zum Song von Loredana und Zuna) oder Choreografien (z.B. zu „WAP“ von Cardi B und Megan Thee Stallion) eingesetzt, um einen Song groß oder noch größer zu machen. Und man kann sicher sein: Hat ein Song-Snippet erst mal eine gewisse Beliebtheit erreicht, kann er nicht mehr anders, als viral zu gehen – zumindest für eine Woche. Denn TikToker*innen orientieren sich an den angesagten Trends und Songs, um mit ihren eigenen Videos mehr Reichweite zu erlangen. Es ist ein schnelllebiger Kreislauf. Der nächste Trend lauert schon hinter dem nächsten 15-Sekunden-Clip.
Aylo kann nicht leugnen, dass der 15-Sekunden-Mechanismus sie beeinflusst: „Wenn du ’nen Track schreibst, denkst du dir: Okay, könnte das jetzt ein Meme werden?“ Kommt ein neues Lied von ihr raus, animiert sie ihre Community – inzwischen über 480.000 Follower*innen –, es zu hören, zu kommentieren oder an einer Challenge teilzunehmen.
Datenmassen, von denen niemand so genau weiß, was damit geschieht
Über die Schattenseiten der gigantischen App, die zu dem milliardenschweren chinesischen Tech-Start-up ByteDance gehört, macht sie sich wenig Gedanken: Datenmassen, von denen niemand so genau weiß, was der chinesische Mutterkonzern damit macht. Die derzeitige US-Regierung hat daher große Vorbehalte gegen die App und möchte sie am liebsten verbieten. Ein weiterer Kritikpunkt: Berichte über die Proteste in Hongkong oder die andauernden schweren Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren, die teils als Völkermord eingeordnet werden, werden von den Behörden zensiert.
Derweil kann es einen stutzig machen, dass es TikTok namentlich nicht im Mutterland China gibt – dort benutzt man stattdessen „Douyin“: funktioniert genauso, ist aber vom Rest der Welt abgekoppelt. Oft werden TikToks undurchsichtige Moderationsregeln kritisiert oder dass Leute sich für Challenges immer wieder in große Gefahr begeben. Trotzdem ist die Beliebtheit der App ungebrochen. In Indien hat ByteDance inzwischen mit Resso sogar einen eigenen Musikstreamingdienst gestartet und das Unternehmen Jukedeck gekauft, das eine künstliche Intelligenz entwickelt hat, die ohne menschliches Zutun eigene Songs schreiben kann. Der Einfluss auf die Musiklandschaft scheint ausgebaut zu werden.
Für Aylo überwiegen die Vorteile: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich meine Musik entwickelt hätte ohne TikTok.“ Früher musste sie neben ihrer Ausbildung drei Nebenjobs machen, um über die Runden zu kommen. Da blieb nicht viel Zeit, um Songs zu schreiben. Durch ihren TikTok-Erfolg ist sie nicht nur zur Influencerin eines Energydrinks geworden, sondern konnte auch einen Plattenvertrag bei Universal unterschreiben.
Titelbild: Universal Music