Die Milchbauern sind wütend, seit Monaten ist Krise im Kuhstall. 2015 hat die Europäische Union die Milchquote abgeschafft, seitdem bekommen die Bauern immer weniger Geld für ihre Milch – Anfang April nur noch rund 26 Cent für ein Kilo. Das ist sehr wenig Geld für sehr viel Arbeit. Vorbei die Zeiten, als es schon mal mehr als 40 Cent pro Kilo gab. „Jeden Tag werden meine Schulden größer“, klagt ein Milchbauer aus Westfalen, der seinen Namen nicht nennen will, weil er Ärger mit seiner Molkerei fürchtet. „Es ist, als müsste ich Eintritt zahlen, bevor ich mit der Arbeit beginnen darf – im eigenen Stall!“ Und das morgens früh bis spätabends, manchmal wenn Kühe kalben, auch nachts und sonntags und an Feiertagen sowieso.

Die europäische Milchquote regelte, dass jeder Hof nur eine bestimmte Menge Milch abliefern durfte. So wollte man der damaligen starken Überproduktion Herr werden und die gesamte Milchmenge begrenzen, um die Preise stabil zu halten. Das hat halbwegs geklappt, wenngleich es auch in den Jahren mit Quote Schwankungen des Erzeugerpreises für Rohmilch von bis zu fast 20 Cent pro Kilo gab, doch nun hat die EU beschlossen, dass die freie Marktwirtschaft auch für Milcherzeuger gelten soll. Jetzt darf jeder Betrieb so viel liefern, wie er möchte. „Eine tolle Chance!“, dachten manche Betriebsleiter, bauten größere Ställe und zogen mehr Kälber zu Milchkühen auf. Deshalb gibt es nun mehr Milch als in den letzten Jahren, aber weil der Export schlechter läuft als erwartet, können die Molkereien und der Einzelhandel wegen der großen Verfügbarkeit die Preise drücken.

Ein Problem, das die Bio-Landwirte übrigens nicht haben. Sie können zurzeit mit dem Kühemelken Geld verdienen (aktuell erzielt Bio-Milch 22 Cent mehr pro Kilogramm als konventionell erzeugte), weil die Nachfrage der Verbraucher nach Bio-Produkten stetig wächst, das Angebot begrenzt ist und sich der Bio-Milchmarkt vor Jahren vom konventionellen abgekoppelt und eigene Milchpreise mit den Molkereien ausgehandelt hat. Doch der weitaus größere Teil der Milchbetriebe arbeitet konventionell und ist in seiner Existenz gefährdet.

Die Milchkühe haben eine Leistungsexplosion vollbracht

Dabei sind die Milchbauern Opfer ihres eigenen Erfolgs, denn es ist ihnen in den letzten Jahrzehnten gelungen, Kühe zu züchten, die viel mehr Milch geben als früher. Der Schweizer Milchbauer Martin Ott bringt es mit einer Metapher auf den Punkt: Wenn Pferdezüchter ihre Rennpferde so „verbessert“ hätten wie Rinderzüchter ihre Kühe, dann könnten Pferde heute in der Formel 1 mithalten. Das können sie natürlich nicht. Aber die Milchkühe haben eine solche Leistungsexplosion tatsächlich vollbracht. Manche von ihnen geben bis zu sechsmal mehr Milch als ihre Ururgroßmütter, mehr als 10.000 Liter Milch im Jahr, Rekordkühe sogar mehr als 20.000.

Auf Stallbesucher wirken Kühe oft behäbig und etwas träge, wie sie da so stundenlang und in aller Seelenruhe auf ihrem Futter herumkauen. Doch der Eindruck täuscht: Im Inneren ihrer Körper pumpt und strömt es wie in einem Kraftwerk. Das Herz einer Hochleistungskuh hat eine Tagesleistung von mehr als 100.000 Litern, und für jeden Liter Milch muss sie 500 Liter Blut durch ihr Euter pumpen – das sind 50 volle Eimer für eine einzige Milchtüte.

Absurd: Kühe kranken an der hohen Milchleistung – und die Preise fallen, weil es so viel Milch gibt

„Eine ähnliche Herzleistung vollbringt nur ein Rennpferd im Galopprennen“, sagt Holger Martens, der als Professor für Tierphysiologie in Berlin geforscht hat. „Doch das läuft zwei Minuten und darf sich dann erholen. Die Kuh nimmt unter den Tieren schon eine Ausnahmestellung ein, was ihre Leistung angeht.“

Doch für diese Ausnahmeleistung müssen Opfer erbracht werden: Die Hochleistungskühe macht das viele Milchgeben oft krank. „Bis zu 80 Prozent der Kühe erkranken innerhalb eines Jahres“, sagt Holger Martens. Schon nach zwei bis drei Jahren im Melkstand würden die meisten von ihnen zum Schlachter geschickt – weil sie unfruchtbar geworden sind, weil sich ihre Euter entzündet haben oder ihre Klauen. Die hohe Milchleistung macht sie empfindlich, sie ähneln Profisportlern, die jede Menge Hilfsmittel brauchen, um fit zu bleiben.

Was für eine absurde Situation: Auf den Höfen leben Kühe, die so viel Milch geben, dass sie davon krank werden. Gleichzeitig gibt es auf dem Weltmarkt so viel Milch, dass die Molkereien und Supermärkte die Preise unter die Produktionskosten drücken können. Das wiederum zwingt die Bauern, alles aus ihren Kühen herauszuholen, weil sie ihre laufenden Kosten decken müssen und oft auch hohe Kredite für Stallbau und Maschinen abzahlen müssen.

Dabei gäbe es eine Lösung, die Ökologen, Tierschützer und viele Biobauern schon seit langem fordern: Wenn die Milchbauern ihren Kühen nicht mehr so viel energiereiches Kraftfutter geben würden, sondern sie auf der Weide grasen lassen würden, dann gäben die Kühe weniger Milch und wären weniger anfällig. Das wäre auch gut fürs Klima und die Artenvielfalt: Denn Weiden speichern CO2, und sie bieten vielen wilden Tieren Lebensraum. Auf diese Weise Milch zu produzieren muss gar nicht teurer sein, das haben die Agrarwissenschaftler Onno Poppinga und Karin Jürgens im Auftrag der Internationalen Forschungsgemeinschaft für Umweltschutz und Umwelteinflüsse auf Mensch, Tier, Pflanze und Erde e.V. ausgerechnet: Man bekommt zwar weniger Milch, hat dafür aber auch weniger Kosten.

Wer in den letzten Jahren in teure neue Ställe und Technik investiert hat, der kann nicht zurück

Aber dieser Ausweg hilft nur Bauern mit großen Weideflächen und nicht zu vielen Kühen. Wer in den letzten Jahren in teure neue Ställe und Technik investiert hat, der kann nicht zurück. Das ist auch der Grund, warum es für viele Milchbauern kompliziert ist, auf biologische Landwirtschaft umzustellen. Die guten Preise, die Bio-Milcherzeuger bekommen, sind verlockend. Doch die Umstellung dauert lange und wäre für viele unbezahlbar, denn die großen Hightech-Ställe, die keinen Zugang zur Weide bieten, sind für die Bio-Landwirtschaft nicht geeignet: Die Bio-Kühe dürfen sich nämlich viel bewegen, bekommen weniger Kraftfutter – und geben weniger Milch als konventionelle Kühe, im Schnitt 6.000 Liter pro Jahr.

Für viele Milchbauern ist das undenkbar, denn sie sind sehr stolz auf ihre Milchleistung. Ihnen jetzt einfach zu sagen, sie sollten es doch machen wie früher und die Kühe auf die Weide lassen, das ist, als würde man einem Fußballer sagen, er solle auf dem Platz nicht mehr so schnell laufen. Zurzeit fände man bei den Milchbauern ohnehin kaum Gehör, sie haben andere Sorgen: Solange die Milchpreise so niedrig sind, müssen sie jeden Tag ums Überleben kämpfen.

Wenn Tanja Busse keine Artikel über nachhaltiges Leben schreibt, ist sie als Moderatorin (zuletzt im WDR) und Buchautorin tätig. Schon die Titel einiger Ihrer bisherigen Werke – etwa „Die Wegwerfkuh“ und „Melken und gemolken werden“ – zeichnen sie als Expertin für das Thema Landwirtschaft und Milchindustrie aus.

Foto: Valeriano Di Domenico