Was sind die Siedlungen?
In der Debatte um den Nahost-Konflikt, der am 7. Oktober zum Krieg wurde, sind sie ein großer Streitpunkt: Wie die israelischen Siedlungen entstanden und wer dort lebt
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Bei den Siedlungen handelt es sich um völkerrechtlich illegal bewohntes Gebiet außerhalb der sogenannten „Grünen Linie“. Diese wurde nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1949 als Waffenstillstandslinie zwischen Israel, dem Westjordanland, Gaza, den Golanhöhen und der Sinaihalbinsel gezogen. Jerusalem wurde dabei geteilt, der westliche Teil wurde Teil von Israel, der östliche Teil wurde von Jordanien verwaltet. Die Grüne Linie wurde international als Israels Staatsgrenze anerkannt. Im Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel Ostjerusalem und das Westjordanland, die Golanhöhen und den Sinai.
Israel annektierte Ostjerusalem und die Golanhöhen (das Westjordanland ist für die israelische Regierung nicht annektiertes Gebiet), die Sinaihalbinsel erhielt Ägypten im Zuge des Friedensabkommens 1979 zurück. Wenn vom illegalen Siedlungsbau die Rede ist, wie ihn etwa die deutsche Bundesregierung wiederholt kritisiert, dann sind damit Bauprojekte in Ostjerusalem und im Westjordanland gemeint, wenngleich formal auch die Golanhöhen als illegal besetztes Gebiet gelten. Der Grund: Die dünn besiedelten Golanhöhen gehören zwar völkerrechtlich zu Syrien, wurden aber über Jahrhunderte von ethnischen Minderheiten, vor allem von Drusen, bewohnt. Rund 30.000 Drusen leben dort bis heute, auf Wunsch mit israelischer Staatsbürgerschaft, und viele Drusen dienen zudem in der israelischen Armee.
In Ostjerusalem leben rund 500.000, im Westjordanland rund drei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser. Obwohl auch Ostjerusalem annektiert wurde, sind die dort lebenden Palästinenser keine israelischen Staatsbürger und haben deshalb nicht die gleichen Bürgerrechte. Das ist das eine Problem, das andere: Durch den Siedlungsbau schrumpft das Land, das im Falle einer Zweistaatenlösung einen arabischen Staat Palästina ausmachen würde.
Aktuell leben zwischen 600.000 und 700.000 jüdische Israelis in mehr als 300 Siedlungen und Outposts im Westjordanland und Ostjerusalem. Die Siedlungen sind dabei teils groß wie Trabantenstädte, verbunden durch ein Netz aus Schnellstraßen und Buslinien mit dem israelischen Kernland. Nach israelischem Recht sind die Siedlungen im Westjordanland grundsätzlich legal. Ausnahme sind sogenannte Outposts − Containerdörfer am Rand der offiziell genehmigten Siedlungen. Etwa 191 Siedlungen sind auch nach israelischem Recht illegale Outposts, einige werden aber dennoch nicht geräumt.
Wer wohnt in den Siedlungen und warum?
Nach Angaben des Israel Policy Forum, einem israelischen Thinktank, gehört ein Drittel der Bewohner zu den Haredim, also ultraorthodoxen Juden, die aus religiösen Gründen im Westjordanland leben. Ein weiteres Drittel lebt im Westjordanland aus wirtschaftlichen Gründen − die Wohnungen dort sind in der Regel günstiger als in Israel, auch weil sie staatlich subventioniert werden. Ohnehin sind die meisten Siedler finanziell abhängig von Israel − sei es, weil sie in Israel arbeiten oder Unterstützung, zum Beispiel in Form von Sozialhilfen oder Subventionen für das Wohnen in einer Siedlung, vom Staat beziehen. Der übrige Teil siedelt sich aus einer religiös-nationalen Ideologie an.
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Diese sogenannten Neozionisten stehen für eine wachsende Gruppe in Israel und werden vertreten von national-rechten Parteien wie dem Likud, der Partei des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Mit Netanjahu regiert der Likud mit kurzen Unterbrechungen seit mehr als 15 Jahren. Die Entwicklung innerhalb der Siedlerbewegung spiegelt sich auch in der Agenda des Likud wider. Wiederholt hat sich Netanjahu gegen einen palästinensischen Staat ausgesprochen.
Gewalteskalation in Huwara
Die meisten Siedlungen befinden sich im C-Bereich des Westjordanlands, auf einer Fläche etwas größer als das Saarland. Die Einteilung in die A-, B- und C-Gebiete erfolgte im Rahmen des zweiten Osloer Abkommens 1995, dem einzigen Versuch eines Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinensern.
Im Rahmen des Oslo-Abkommens II aus dem Jahr 1995 wurde das von Israel besetzte Westjordanland in drei Gebiete – A, B und C – aufgeteilt. Damit sollte erreicht werden, dass die Palästinenser schrittweise die Kontrolle über das Westjordanland erlangen und Israel sich aus den Gebieten zurückzieht − also seine Armee abzieht und die israelischen Siedlungen auflöst. Das erklärte Ziel war eine Zweistaatenlösung, tatsächlich aber führte der Plan zu einer zusätzlichen Fragmentierung des Westjordanlands.
Das A-Gebiet bezeichnet das Gebiet, das vollständig von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah verwaltet und kontrolliert wird. Es umfasst 18 Prozent der Fläche des Westjordanlands, dazu gehören die größeren Städte wie Ramallah, Nablus, Jenin und Jericho. Israelischen Bürgern ist der Zutritt verboten. Tatsächlich aber führt die israelische Armee regelmäßig Razzien und Einsätze durch, etwa um palästinensische Terroristen aufzuspüren.
Die PA verfügt im A-Gebiet über einen sogenannten Sicherheitsdienst, der de facto die Polizei- und Militärautorität der Autonomiebehörde ist. Auch das wurde in den Osloer Abkommen geregelt. Zudem kooperierte die PA in der Vergangenheit mit Israels Geheimdiensten und der Armee im Kampf gegen radikale Palästinenser, etwa Kämpfer der mit der Fatah rivalisierenden Terrororganisation Hamas, die eine Gefahr für Israel, aber auch für die Fatah als Regierungspartei der PA darstellt.
Innerhalb des B-Gebiets, das 22 Prozent des Westjordanlands ausmacht, hat die PA die administrative Kontrolle, militärisch wird das Gebiet aber von Israel kontrolliert. Fragen der inneren Sicherheit unterliegen also anders als bei den A-Gebieten nicht vorrangig der palästinensischen Kontrolle. Das B-Gebiet setzt sich vor allem aus kleinen Gemeinden und Dörfern zusammen.
Das mit Abstand größte C-Gebiet umfasst 60 Prozent des Westjordanlands. Hier hat Israel die Zivil- und Polizeikontrolle. Dieses Gebiet ist ländlich geprägt, aber auch alle israelischen Siedlungen befinden sich dort, etwa 400.000 israelische Siedler leben im C-Gebiet, außerdem rund 300.000 Palästinenser. Diese haben aber keinen Zutritt zu den Siedlungen − Ausnahmen sind palästinensische Arbeitskräfte, die nur mit Genehmigungen die Siedlungen betreten dürfen. Während für israelische Siedler das israelische Zivilrecht gilt, fallen die Palästinenser unter israelisches Militärrecht. Die PA übernimmt für die palästinensische Bevölkerung Aufgaben wie die medizinische Versorgung und die Schulbildung.
30 Jahre nach dem Osloer Abkommen ist das C-Gebiet durchzogen von modernen Schnellstraßen, die die Siedlungen mit Israels Staatsgebiet verbinden. Die palästinensischen Dörfer, sofern sie nicht auf der Route der Straße liegen, sind allerdings nicht unmittelbar angebunden.
Eine Ausnahme der Gebietsregelung gilt in Hebron − die einzige Stadt im Westjordanland, in deren historischem Zentrum jüdische Siedler leben, bewacht von der israelischen Armee. Formal liegt Hebron im A-Gebiet. Aber nur 80 Prozent der Stadt sind offiziell unter palästinensischer Kontrolle. Die übrigen 20 Prozent, mitsamt fast der gesamten Altstadt von Hebron, stehen unter israelischer Militärkontrolle.
Im Februar vor einem Jahr erlangte die palästinensische Kleinstadt Huwara, die teilweise im C- und teilweise im B-Bereich liegt, traurige Berühmtheit: Etwa 400 radikale jüdische Siedler griffen den Ort an, setzten Häuser und Autos in Brand. Die Männer wollten sich für den Mord an zwei Israelis rächen, die aus dem Auto heraus auf der Durchfahrt durch Huwara von einem radikalen Palästinenser erschossen worden waren.
Die israelischen Soldaten vor Ort ließen die Angreifer gewähren, verstärkten das Gefühl, das Westjordanland sei ein rechtsfreier Raum − mit Selbstjustiz als legitimer Form der Gewalt. Denn bis heute befinden sich die Siedlungen in einem rechtlichen Graubereich. Das Gebiet ist besetzt, nicht annektiert. Das heißt, dort gilt Israels Militärrecht, die Armee ist für die Sicherheit zuständig, nicht die israelische Polizei. Die Siedler sind israelische Staatsbürger, gleichzeitig hat etwa das Oberste Gericht in Jerusalem kaum Zugriff auf die Durchsetzung der Grundrechte, da das Westjordanland kein Staatsgebiet, sondern besetztes Gebiet ist. Deshalb greift für die Siedler nur das Zivilrecht, während die Palästinenser unter Militärrecht fallen. Damit lassen sich israelische Rechtsstaatsprinzipien in den Siedlungen nicht garantieren – wovon die radikalen Siedler profitieren. Das hat eine Art der Siedlermentalität unter den Bewohnenden geschaffen. Der Angriff auf Huwara aber rüttelte die Bevölkerung in Israel auf: In den Wochen danach demonstrierten in Tel Aviv viele Israelis gegen die wachsende Siedlergewalt.
Aktuelle Umfragen aber zeigen eine wachsende Radikalisierung innerhalb der israelischen und palästinensischen Gesellschaft.
Titelbild: Amit Elkayam/NYT/Redux/laif
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