Aus protestantischer Sicht wird man in der Mitte der reformatorischen Freiheitsentdeckung anfangen müssen, nämlich bei Martin Luthers Freiheitsschrift 1520 "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Dort finden sich die beiden entscheidenden Sätze:
"Ein Christenmensch ist sein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."
Frei - wovon? Frei - wofür?
Das evangelische Freiheitsverständnis hat immer dieses Zugleich einer Freiheit von etwas und einer Freiheit für etwas zusammengedacht. Denn dieses Zugleich spiegelt die auch heute noch nachvollziehbare Einsicht, dass der mit sich selbst allein gelassene Mensch in sich selbst gefangen bleibt und sein Ich zum Mittelpunkt der Welt machen muss. Freiheit nach evangelischem Verständnis ist darum zuerst die Freiheit vom Narzissmus, das heißt von der Ichbezogenheit und vom Zwang, sich selbst immer größer, breiter, wichtiger, toller und so weiter machen zu müssen, als man ist.
Der Mensch ohne Gott ist der vereinsamte Mensch, der Hausarrest hat in sich selbst und keine Heimat findet beim anderen, weil er nicht lieben, nicht mitleiden, nicht mitlachen kann. Diese Freiheit von der Selbstbezogenheit - frühere Generationen nannten diese Freiheit die Rechtfertigung des Sünders - ist keine Abwertung einer guten Ich-Stärke oder eines gesunden Selbstbewusstseins, das um die eigene Leistungskraft weiß und die eigenen Grenzen nicht verleugnen muss. Es ist vielmehr die Befreiung von allem Größenwahn, selbst wie Gott sein zu wollen. Und in dieser Freiheit von der Selbstverabsolutierung ist auch die Freiheit von allen anderen Herren und Geistern eingeschlossen, die sich in dieser Welt zu kleinen Göttern aufschwingen und Herrschaft beanspruchen über die Seele eines Christenmenschen. Weder Könige noch Konsum, weder leichte Erfolge noch große Erbschaften, weder ideologische Mächte noch finstere Kreaturen dürfen oder sollen Macht haben können über das Gewissen eines freien Christenmenschen.
Der Dienst am Nächsten
Zugleich aber ist diese Freiheit von allen "Herrschern, Mächten und Gewalten" (vergleiche im Neuen Testament den Römerbrief des Apostels Paulus im 8. Kapitel) keine Willkürfreiheit, keine Beliebigkeitsfreiheit, keine Wünsch-mir-was-Freiheit, sondern eine sich selbst strukturierende und bindende Freiheit. Gerade weil das evangelische Freiheitsverständnis so überaus hoch von der Freiheit des Christenmenschen spricht, kann sie zugleich so radikal von der Freiheit zur Verantwortung sprechen. Für Martin Luther war es die Freiheit für den Dienst am Nächsten, die den Christenmenschen auszeichnet, also konkret die Hilfe für denjenigen, der mich braucht, der meine Hilfe, meine Solidarität und Zuwendung, aber auch mein Gebet braucht. Dem Nächsten und seiner Not gegenüber bin ich in aller Freiheit ein "dienstbarer Knecht". Diese Freiheit hat sich ganz konkret im Alltag ausgewirkt, sie ist eingeflossen in ein Berufsverständnis, das den weltlichen Beruf nicht zu einer abgewerteten Lebensform gegenüber einem vermeintlich besonders frommen mönchischen Leben versteht, sondern das den Beruf als den Ort ansieht, an dem der Christenmensch seinen Dienst am Nächsten im Rahmen seiner Vernunft und Einsicht erfüllt. Heute würde man diese Freiheit für den Nächsten vermutlich am ehesten im Engagement für die Schwachen, im Einsatz für die Kinder, in der Verlässlichkeit einer Ehe oder Freundschaft, in einer Verantwortlichkeit für das politische Gemeinwesen und so weiter sehen. Der evangelische Glaube weiß darum, dass die Konkretionen jener Freiheit für andere sehr vielfältig sind. Aber der Grundgedanke ist bis heute gleich geblieben: Der freie Christenmensch kann und soll im Laufe seines Leben lernen und entdecken, zu welchem "Dienst am Nächsten" er berufen ist und wo er seine Gaben besonders gut einsetzen kann.
Allein mit Gott
Gerade für Jüngere aber ist es heute nicht immer leicht, ihre Aufgabe, ihre Berufung, ihren Ort im Dienst am Nächsten in diesem Leben zu finden. Doch trotz dieser "Mühen der Freiheit" bleibt es das Grundprinzip evangelischen Freiheitsverständnisses, dass der Mensch selbstständig und - hoffentlich - selbstbewusst, eigenverantwortlich und - hoffentlich - autonom seine Entscheidung treffen muss. Die Kirche kann dabei raten, sie kann empfehlen, sie kann auch kritisieren und ins Gewissen reden, sie ist auch der Ort, an dem der Mensch jene Freiheit erfahren, entdecken und einüben kann, aber entscheiden und verantworten muss der einzelne Mensch sein Tun und Lassen allein vor Gott. Und als evangelischer Christ hat man mitunter den Eindruck, dass die katholische Schwesterkirche an dieser Stelle doch sehr viel deutlicher vorschreiben möchte, was der oder die Einzelne zu tun und zu lassen hat.
Dr. Thies Gundlach ist evangelischer Theologe, Autor und Pastor in Hamburg.