fluter.de: Herr Hoffmann, viele fragen sich, wo eigentlich der Unterschied ist zwischen einer Tat wie in München und islamistisch motivierten Anschlägen wie in Würzburg oder Ansbach. Sie haben die Taten von Amokläufern untersucht, aber auch die von Terroristen. Was ist ein Terrorattentat, was ein Amoklauf?
Jens Hoffmann: Der Begriff Amok ist nicht unproblematisch. Das ursprüngliche malaysische Wort meint ja ein plötzliches Ausrasten eines Täters, der andere Menschen in einem Akt der Raserei tötet. Was wir als Amokläufe bezeichnen, ist in der Mehrzahl der Fälle geplant und vorbereitet. Etwa Attentate in Schulen.
Wie ein Terrorangriff auch.
Ja. Etwas weniger plakativ könnte man bei beidem ganz einfach auch von Mehrfachtötungen im öffentlichen Raum sprechen. Und da stellen wir fest: Schulattentäter und Terroristen, zumindest solche, die sich selbst radikalisiert haben und nicht von einer Gruppe losgeschickt werden, sind sich in vielem überraschend ähnlich.
Inwiefern?
Vor allem in drei Punkten. Erstens: Beide tragen ein Gefühl von Kränkung oder Ungerechtigkeit mit sich herum, aus dem sich Rachegedanken entwickeln können. Das kann ein wahrgenommenes Mobbing durch die Klassenkameraden sein, aber auch das Gefühl, als Muslim einer unterdrückten Gruppe anzugehören. Zweitens: Sowohl Amoktäter als auch terroristische Einzeltäter haben das Gefühl, in einer ausweglosen Krise zu stecken. Der dritte Faktor ist die Ideologie, die eine Gewalttat rechtfertigt.
Schulattentäter verfolgen doch keine Ideologie.
Doch, interessanterweise gibt es so etwas auch dabei. Erstaunlich viele Schulamokläufer beziehen sich auf das Attentat an der Columbine-Highschool im Jahr 1999. Die beiden Attentäter wollten mit ihren Taten damals eine Revolution der Ausgestoßenen begründen. Das ist vielen auch zwei Jahrzehnte später noch ein Anknüpfungspunkt.
„Die wenigsten Depressiven würden zu einer Amoktat neigen. Und nicht jeder, der einen Amoklauf begeht, ist depressiv.“
Die Columbine-Attentäter sind also vergleichbare Ideologielieferanten wie der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi?
Zumindest haben beide bewusst ein kulturelles Skript geliefert, an dem sich Nachahmer orientieren können. Man kann es als Ideologie bezeichnen.
Bei vielen, etwa bei dem Münchener Täter, stellte sich heraus, dass sie wegen Depression in Behandlung waren. Andere Experten sagen dagegen, dass Gewalttaten eher untypisch sind für Depressionskranke.
Eine Depression ist sicher kein Auslöser einer solchen Tat. Aber wer depressiv ist, sieht häufig weniger Handlungsmöglichkeiten für sich und begreift seine Situation als ausweglos. Das Krisengefühl ist wie gesagt nur eines von drei Merkmalen der Täter. Die wenigsten Depressiven würden zu einer Amoktat neigen. Und nicht jeder, der einen Amoklauf begeht, ist depressiv.
Egal ob Terroranschläge oder Amokläufer: Die Täter sind auffällig oft junge Männer. Warum?
Vermutlich hängt das damit zusammen, dass Frauen und Männer anders mit psychischen Krisen umgehen. Frauen sprechen schneller mit anderen Menschen über die Probleme und sind eher bereit, sich Hilfe zu suchen. Junge Männer tendieren dazu, ihre Sorgen mit sich allein auszumachen.
Begünstigen bestimmte Männlichkeitskulte diese Taten?
Geschlechterstereotype spielen sicherlich auch eine Rolle: der Mann als Krieger oder Rächer gegen eine ungerechte Welt. Man weiß, dass Menschen im jungen Erwachsenenalter eher anfällig sind für so genannte Identifizierungen, sich also mitunter stärker an Geschlechterstereotypen orientieren als ältere Menschen.
„Wer viele Leute umbringt, wird bekannt.“
Wie wichtig ist es für die Täter, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen?
Sehr wichtig. Und wir bieten diese Bühne ja relativ bereitwillig an, wie man am Ausmaß der Berichterstattung sehen kann: Wer viele Leute umbringt, wird bekannt. Vorher war man nichts, jetzt IST man in allen MEDIEN. Dieser Ruhm ist gerade für junge Leute verlockend, die über ihren Tod hinaus fantasieren können.
Ist das eine weitere Gemeinsamkeit? Auch für manche islamistische Terroristen spielt vordergründig die Vorstellung eine Rolle, in einem Jenseits für ihre Morde belohnt zu werden.
Die Vorstellung von dem, was nach ihrem Tod passiert, ist für beide nicht selten ein starker Antrieb. Sie geben sich beide sehr intensiv der Fantasie hin. Man kennt das Phänomen übrigens von Suiziden bei Jugendlichen: Die stellen sich manchmal vorher sehr genau vor, wie die Eltern am Grab stehen und sich Vorwürfe machen. Dass sie davon dann nichts mehr haben, ist ihnen gar nicht so richtig bewusst. Die Vorstellung, dass der Tod etwas Endgültiges ist, ist bei jungen Erwachsenen noch sehr viel abstrakter.
In den vergangenen Wochen haben sich Attentate gehäuft. Ist das ein Zufall?
Ich kann mir gut vorstellen, dass Nachahmer-Effekte eine Rolle gespielt haben. Das Phänomen ist übrigens bei Schulattentaten bereits gut untersucht: Geschieht irgendwo ein Amoklauf, über den die Medien groß berichten, zieht er weitere Taten oder Tatversuche nach sich. Wer ebenfalls mit dem Gedanken spielt, wer vielleicht noch zögert, der sieht nun: Es ist möglich, es geht. Bei Suiziden sind diese Nachahmer-Effekte übrigens ähnlich, was dazu geführt hat, dass heute wesentlich zurückhaltender über Selbsttötungen berichtet wird.
„Der Täter sollte nicht ins Zentrum gerückt werden, schon gar nicht auf eine Weise, die als glorifizierend interpretiert werden könnte.“
Wie sollte über Attentate berichtet werden, ohne weitere Täter zu inspirieren?
Ganz wichtig ist: Der Täter sollte nicht ins Zentrum gerückt werden, schon gar nicht auf eine Weise, die als glorifizierend interpretiert werden könnte. Medien sollten seinen Namen nicht nennen und die Bilder verpixeln. Die ersten Zeitungen und Fernsehsender beherzigen das zum Glück auch.
Wenn Amokläufe und Attentate so gut wie nie spontan sind: Wie weit im Voraus steht der Entschluss fest?
Wir sehen, dass es bei fast jedem Täter lange Phasen des Zweifelns gibt. Zum Beispiel der 18-Jährige, der 2006 in seiner ehemaligen Schule in Emsdetten Amok lief. Er hatte einerseits die Rachefantasien, es der Gesellschaft irgendwann zu zeigen und dabei auch Angst, selbst zu Tode zu kommen. Das geht aus seinen Aufzeichnungen hervor. Gleichzeitig malte er sich ein Leben als Auswanderer in den USA aus, mit kleinem Häuschen und Basketballkorb über dem Garagentor. Beide Vorstellungen standen lange nebeneinander. Die Frage ist letztlich, wie sich eine solche Gemengelage entwickelt: Wie ist das Verhältnis von stabilisierenden Faktoren wie einem Freundeskreis oder einem Job und solchen Faktoren, die Kränkungsgefühle begünstigen und das Leben als ausweglos erscheinen lassen.
Häufig haben Schulattentäter ihre Taten vorher irgendwann angekündigt.
Terroristische Einzeltäter übrigens auch. Häufig sind sie mit ihren Gedankenspielen in ihrem Umfeld vorher auffällig geworden. Was ein guter Ansatz ist, um einzugreifen.
„Wir sehen, dass es bei fast jedem Täter lange Phasen des Zweifelns gibt.“
Bei Schulattentaten kann man die Lehrer sensibilisieren, damit sie stärker auf Vorzeichen achten. Lässt sich das auf andere Fälle übertragen?
Im Prinzip ist die Empfehlung ganz ähnlich. Wo könnte diese Person mit ihren Gewaltgedanken auffällig werden? An den Stellen braucht es dann Ansprechpartner, also in Behörden, Universitäten, Unternehmen. Wir hatten zum Beispiel einen Fall in unserer Beratung, bei dem ein Mitarbeiter einer Firma einen Amoklauf gegenüber einem befreundeten Kollegen angekündigt hat. So etwas kann ja ein makabrer Scherz sein, es kann aber auch mehr dahinterstehen. Was den Freund beruhigt hat: Er hatte das ganz ruhig gesagt und auch sehr detailliert aufgeführt, wen er umbringen möchte. Der Freund hatte sich zwei Nächte im Bett gewälzt, weil er nicht wusste, ob er den Hinweis weitergeben soll oder nicht. Nicht dass der entlassen wird. Das zeigt übrigens auch, wie wichtig es ist, bei solchen Anzeichen behutsam vorzugehen und nicht in einer Überreaktion alle Türen zuzuschlagen. Wir haben sehr diskret das Gespräch mit dem Mitarbeiter gesucht und ihm therapeutische Hilfe vermittelt, ohne dass im Unternehmen viel Wind darum gemacht wurde. Das hat gut funktioniert.