Die Lederwesten holen sie nur noch am Wochenende aus dem Schrank. Ihre Motorräder parken sie vor Reihenhäusern in schwäbischen Vororten. Und statt wilder Partys gibt es Wurst und Kartoffelsalat im Vereinshaus. Das klingt nicht gerade nach den gefährlichen Höllenrockern, die man aus Reportagen über Motorradclubs kennt. In Marcel Wehns Dokumentarfilm „Ein Hells Angel unter Brüdern“ gibt es keine Bilder aus dem Rotlichtmilieu und keine düstere Off-Stimme, die von „Rockerkriegen“ berichtet. Ja, nicht mal einen AC/DC-Song.

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cms-image-000044317.jpg (Foto: INDI FILM)
(Foto: INDI FILM)

Regisseur Wehn weiß, was es für einen guten Film braucht: Zeit und Vertrauen. Er hat das Stuttgarter Charter, so nennt man die einzelnen Landes- und Ortsabteilungen der Hells Angels, und dessen Präsidenten Lutz Schelhorn (im Bild rechts) über fünf Jahre hinweg begleitet. Auf diese Weise hoffte Wehn, den Mythos „Hells Angels“ verstehen zu lernen, statt ihn bloß zu verurteilen. Alle Negativschlagzeilen rund um Drogen, Prostitution, Gewalt und mafiöse Strukturen setzt er deshalb als bekannt voraus. Im Zentrum stehen vielmehr jene Begrifflichkeiten, die den Gründungsmythos der Hells Angels ausmachen: „Ehre“ und „Loyalität“. Und Lutz Schelhorn verkörpert diese Werte.

Schon die erste Szene macht das deutlich: Hunderte Männer mit Sonnenbrillen, grauen Bärten und abgetragenen Rockerwesten stehen auf einem Friedhof nahe Stuttgart. Die Kamera zeigt harte Gesichter, als Zuschauer wird man beinah erschlagen von so viel schweigender Männlichkeit. Es ist die Beerdigung von Lutz’ Bruder. Frank Schelhorn hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. Lutz hält sie in den Armen. Noch auf der Beerdigung sammeln die Hells Angels Spenden, verkaufen T-Shirts und CDs, um die Familie finanziell zu unterstützen. Es wird klar: Diese Angels sind genauso hart wie herzlich – aber ganz sicher nicht mehr jung und rebellisch.

Dabei sahen die Anfänge des Motorradclubs ganz anders aus. In den 1940er-Jahren wurden die Hells Angels von amerikanischen Kriegsveteranen gegründet. Sie fühlten sich der amerikanischen Gesellschaft nicht länger zugehörig und wollten nach eigenen Regeln leben. Vordergründig hieß das „Freiheit“, und auch Schelhorn erinnert sich bei der Durchsicht seiner Jugendfotos aus den 70er-Jahren an das Gefühl, jederzeit auf dem Motorrad davonfahren zu können. Im Laufe der Zeit sind die Angels aber mehr und mehr zu Großfamilien mit patriarchalen Strukturen herangewachsen, und damit ist oft ein gewisses Maß an Spießigkeit verbunden.

Und die findet man, in einer schwäbischen Variante, auch in Stuttgart. Wehn zeigt Schelhorn und seine Familie in einer stockkonservativen Vorort-Nachbarschaft. Schelhorn, selber tätowiert bis unter die Zähne, kommentiert das Tattoo seiner Tochter mit: „Begeistert bin ich nicht.“ In seiner Freizeit führt er Schülergruppen durch den Stuttgarter Bahnhof. Und auf der Straße wird er von allen freundlich gegrüßt. Die Stuttgarter Hells Angels haben sich seit Jahrzehnten nichts mehr zuschulden kommen lassen. Maximalen Nervenkitzel bietet eine Verkehrskontrolle beim wochenendlichen Motorradausflug.

Auch die brüderliche Loyalität kennt ihre Grenzen

Stellenweise läuft der Film deshalb Gefahr, zu gemütlich zu werden, die Angels insgesamt als freiheitsliebende Ehrenmänner zu verkaufen. Verstärkt wird das durch ruhige Popsongs und Slow-Motion-Kamerafahrten. Distanz schafft Wehn dann, indem er Gegenstimmen, zum Beispiel einen Stuttgarter Kriminalkommissar, zu Wort kommen lässt. Außerdem zieht er Fälle aus anderen Chartern heran: den Bonner Rocker Kalli etwa, der einen Polizisten erschossen hat, als dieser dabei war, die Eingangstür eines Hauses aufzubrechen. Schelhorn, der seine Haltung zu diesem Fall erklären soll, weicht zunächst aus. Erst als Wehn aus dem Off nachhakt, zeigt sich, dass hier sogar seine brüderliche Loyalität an Grenzen stößt.

Kritischer wird Schelhorn, als ihn Wehn auf die Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen Hells Angel aus einem anderen Charter anspricht. Es ist eine der spannendsten Stellen im Film. Hier sagt Schelhorn zwar, dass so jemand in seinem Charter nichts zu suchen hätte, aber dass er so einen Fall nicht vor Gericht, sondern clubintern klären würde. Und die Meinung des Opfers würde hierbei keine Rolle spielen. Mit diesen Widersprüchen seines Protagonisten lässt Wehn den Zuschauer dann allein. Indem er verschiedene Seiten von Schelhorn zeigt, soll sich jeder sein eigenes Bild zusammensetzen.

Eine Seite verschweigt Wehn hingegen, und das ist auch das größte Manko des Films: die in den Medien häufig thematisierten Charter wie Hannover, Flensburg, Kiel oder Bremen, in denen sich Machtstrukturen gebildet haben, die mit Drogen, Prostitution und Gewalt einhergehen. Schelhorn führt Wehn nur dorthin, wo die Hells Angels in einem möglichst guten Licht erscheinen. Doch kann der Stuttgarter Club nicht stellvertretend für alle Hells Angels stehen. Womöglich weiß Wehn aber um diese Lücken oder beabsichtigt sie sogar. Schließlich lautet der Titel: „EIN Hells Angel unter Brüdern“. Man kann eben viele Geschichten über die Hells Angels erzählen. Und die von Schelhorn ist nur eine davon.