Die Geschichte von Keita Balde könnte eine sehr schöne Geschichte sein. Die eines Flüchtlings auf dem Land, der fließend Deutsch und sogar ein bisschen Bairisch spricht, der sich ehrenamtlich engagiert und längst Teil der Gesellschaft ist. Es könnte eine Integrationsgeschichte aus dem Bilderbuch sein.
„Es war immer mein Ziel, in diesem Land auf eigenen Beinen zu stehen“, sagt er. Einen Beruf auszuüben, sein eigenes Geld zu verdienen. Es sah so aus, als ob sein Wunsch wahr werden würde. In Vilshofen bei Passau, wo er seit knapp vier Jahren lebt, machte der 24-Jährige aus dem Senegal schon nach kurzer Zeit seinen Mittelschulabschluss. Danach folgte eine einjährige schulische Ausbildung zum Pflegefachhelfer. Doch momentan darf er sich nicht weiterqualifizieren und wie gewünscht eine Ausbildung zum Kranken- oder Altenpfleger dranhängen. Keita Balde darf gar nicht arbeiten.
„Es war immer mein Ziel, in diesem Land auf eigenen Beinen zu stehen“
Das neue Integrationsgesetz gilt seit Sommer 2016 und soll Flüchtlingen unter anderem neue Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Mit den Stimmen der Großen Koalition hat die Mehrheit im Bundestag zum Beispiel beschlossen, dass geflüchtete Menschen mit „guter Bleibeperspektive“ künftig schneller mit ihrem Integrationskurs beginnen können. Anders als zuvor veröffentlichen die Institutionen, die Kurse anbieten, ihr Programm jetzt online. So lässt sich leicht nachvollziehen, wann und wo der nächste Platz frei wird. Außerdem sollen Flüchtlinge schon möglichst früh einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen und können zum Beispiel in der Kleiderkammer ihrer Unterkunft helfen oder dabei, die Grünanlagen vor Ort zu pflegen – die umgangssprachlichen „Ein-Euro-Jobs“. Tatsächlich gibt es für diese Aufgaben noch ein bisschen weniger, nämlich 80 Cent pro Stunde.
Im Gesetz steht auch die sogenannte Ausbildungsduldung. Die „Drei-plus-zwei“-Formel regelt, dass abgelehnte Asylbewerber, die in Deutschland nur geduldet sind, eine meist drei Jahre lange Ausbildung machen dürfen und währenddessen nicht abgeschoben werden können. Wenn sie danach im Betrieb weiterbeschäftigt werden, erhalten sie ein zweijähriges Aufenthaltsrecht, um in ihrem Beruf zu arbeiten.
Die neue Regelung ist für abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber eigentlich eine gute Nachricht
Ende Juni 2016 lebten in Deutschland etwa 550.000 abgelehnte Asylbewerber, von denen die meisten schon seit mehr als sechs Jahren hier sind. Viele von ihnen besitzen inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis, andere nur eine Duldung, so wie Keita Balde. Die neue Regelung ist für sie eigentlich eine gute Nachricht.
Doch Keita Balde nützt das Gesetz nichts. Obwohl er schon Angebote von Betrieben hatte, darf er keine Ausbildung beginnen. Das hat zwei Gründe. Sein Heimatland Senegal gehört zu den Staaten, die als „sicheres Herkunftsland“ gelten. Und seine neue Heimat Bayern ist das Bundesland, das die „Drei-plus-zwei“-Regelung hierzulande am strengsten auslegt.
Im Gesetz steht, dass Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern keine Ausbildungsduldung erhalten, wenn sie ihren Asylantrag nach dem 31. August 2015 gestellt haben und er abgelehnt wurde. Der Antrag von Keita Balde wurde zwar im vergangenen Jahr abgewiesen, doch er hatte ihn bereits 2013 eingereicht. Das bayerische Innenministerium hat die zuständigen Ausländerbehörden allerdings darauf hingewiesen, dass abgewiesenen Menschen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ wie dem Senegal oder Ghana „grundsätzlich keine Beschäftigungserlaubnis zu erteilen“ ist. Keita Balde erfuhr vergangenes Jahr, dass er nicht arbeiten darf, da hatte er gerade seine Ausbildung abgeschlossen und dadurch die mittlere Reife erlangt.
In aller Regel sei bei Menschen, die aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ stammen, „von vornherein klar, dass kein Aufenthalt in Deutschland möglich ist“, sagt Stefan Frey vom bayerischen Innenministerium. Sie dürften meist keine Ausbildung mehr absolvieren, weil es bei ihnen „nicht mehr das Ziel“ sei, hier zu bleiben.
Nach vier Jahren in Deutschland sieht Keita Balde für sich hier deutlich mehr Perspektiven als im Senegal
Im vergangenen Herbst hielt der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer eine umstrittene Rede, bei der er sagte, „das Schlimmste“ sei „ein fußballspielender, ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre hier – als Wirtschaftsflüchtling –, den kriegen wir nie wieder los.“ Er meinte Menschen wie Keita Balde. Der ministriert zwar nicht, kickt aber bei der Spielvereinigung Pleinting und arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz. In seiner Heimatregion nahe der Grenze zu Mali gab es in der Vergangenheit immer wieder Konflikte. Gerade sei die Lage dort ruhig, gibt er zu, doch die Angst, dass es wieder Unruhen geben könnte, bleibt. Und: Nach vier Jahren in Deutschland sieht er für sich hier deutlich mehr Perspektiven.
Um der Perspektivlosigkeit zu entfliehen, sei das Asylrecht aber nicht gemacht, argumentiert die Landesregierung. Für Christine Kamm, die asylpolitische Sprecherin der Grünen im bayerischen Landtag, sind die Arbeitsverbote für Flüchtlinge „unmenschlich und unsinnig“ und sabotierten „die Integration in Ausbildung und Beschäftigung“.
In einer umfunktionierten Turnhalle an einer Bayreuther Berufsschule sitzen elf Schüler an ihren Plätzen und lassen sich von Deutschlehrerin Tina Christiansen die Funktionsweise von Relativsätzen erklären. Elf Schüler, deren Chancen, in Deutschland bleiben zu können, sehr unterschiedlich sind: Amir aus Iran und Tareq aus Syrien haben immerhin bereits eine einjährige Aufenthaltserlaubnis, einige Mitschüler, etwa aus Mali, haben es womöglich schwerer. Denn Menschen aus dem westafrikanischen Land erhalten deutlich seltener einen Aufenthaltstitel als Flüchtling.
„Was soll ich einem 16-Jährigen sagen, wenn er mich fragt, wieso er vielleicht keine Ausbildung machen darf?“
Für diejenigen mit Aufenthaltstitel ist eine Ausbildung kein Problem. Von den Schülern mit Duldung aber werden manche nach der Schule eine Ausbildung beginnen können, andere nicht. Für Christiansen wird es immer schwerer, Schüler zu motivieren, die hier ohnehin keine berufliche Zukunft mehr zu haben scheinen. Sie sagt: „Was soll ich einem 16-Jährigen sagen, wenn er mich fragt, wieso er vielleicht keine Ausbildung machen darf? Sorry, sieht schlecht aus, du bist aus Mali?“
Auch an anderen Schulen in Bayern berichten Lehrer von verzweifelten Schülern, die psychische Zusammenbrüche erlitten haben oder nicht mehr wissen, wieso sie eigentlich lernen sollen. Die Hoffnung auf ein neues Leben in Europa ist bei manchen Schülern einem Gefühl der Verbitterung gewichen. Zum Beispiel bei dem senegalesischen Schüler aus München, der seit Jahren hier lebt, schon zwei Arbeitsverträge in der Hand hielt – und wegen seiner Herkunft doch nie anfangen durfte zu arbeiten. Deutschland, das bedeute für ihn nur noch „Du darfst nicht, du kannst nicht“, sagt der junge Mann. Und fügt sarkastisch hinzu: Vielleicht werde er bald kriminell, auf normale Weise dürfe er sein Geld ja nicht verdienen.
In Bayern dürfen auch Flüchtlinge, die sich noch im laufenden Asylverfahren befinden, häufig keine Ausbildung beginnen. „Oft sind es Asylbewerber aus Afghanistan, bei denen die Behörde auf die angeblich schlechte Bleibeperspektive verweist“, sagt Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. So lief es bei einem afghanischen Flüchtling aus Oberbayern. Bernhard Ried, der in Obertaufkirchen einen Betrieb für Heizung und Sanitär besitzt, beschäftigte den jungen Mann zunächst als Praktikanten. „Er war durch die Arbeit wie ausgewechselt, richtig euphorisch“, sagt Ried. Also beschloss er, ihm einen Ausbildungsplatz zu geben. Alles war geklärt, der Vertrag aufgesetzt. Doch die zuständige Ausländerbehörde legte ihr Veto ein – weil der junge Afghane wohl ohnehin nicht in Deutschland bleiben dürfe. Handwerker Ried, der kaum noch deutsche Bewerber für seine Azubi-Stellen findet, versteht die Behörde nicht. „Das wäre doch eine Win-win-Situation gewesen“, sagt er.
„In manchen Städten und Landkreisen entscheiden die Behörden liberaler, in anderen restriktiver“
Im vergangenen Jahr wurde über rund die Hälfte der 127.892 Erst- und Folgeasylanträge aus Afghanistan entschieden, von diesen wurde nur jeder fünfte Antragsteller als Flüchtling anerkannt. Von den im Januar dieses Jahres entschiedenen Erst- und Folgeanträgen waren es sogar nur noch 17,5 Prozent (nämlich 2.467 von 14.107), die eine Rechtsstellung als Flüchtling erhielten. Es liege im Ermessen der Ausländerbehörden vor Ort, zu beurteilen, wie die Bleibeperspektive eines Asylbewerbers aussieht und ob er eine Ausbildung beginnen dürfe, sagt Stefan Frey vom bayerischen Innenministerium. „Dabei ziehen sie die Bleibequoten, aber auch andere, individuelle Kriterien hinzu, um eine Entscheidung zu treffen“, sagt er. Es gehört zur deutschen Rechtsordnung dazu, dass die Verwaltung vor Ort einen Ermessensspielraum hat – nicht nur beim Asylrecht. So kommt es, dass es auch innerhalb eines Bundeslandes vom Wohnort abhängig sein kann, ob ein Flüchtling eine Ausbildung beginnen darf oder nicht. „In manchen Städten und Landkreisen entscheiden die Behörden liberaler, in anderen restriktiver“, hat Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat beobachtet.
Maximilian Pichl, der rechtspolitische Referent von Pro Asyl, hat den Eindruck, dass andere Bundesländer die „Drei-plus-zwei“-Regelung weniger streng als Bayern auslegen. So dürfen abgelehnte Asylbewerber in Bayern meist dann schon keine Ausbildung mehr beginnen, wenn sie aufgefordert werden, einen Pass zu beantragen. Zwischen diesem Zeitpunkt und der tatsächlichen Abschiebung könnten Jahre liegen, sagt Pichl. In anderen Bundesländern, in Niedersachsen etwa, gehe man erst dann vom Ende des Aufenthalts aus, wenn der Rückflug ins Heimatland bevorsteht.
Keita Balde hat jeden Tag Angst vor diesem Moment. „Die Polizei könnte jederzeit kommen und mich zurückschicken“, sagt er. Es ist für ihn derzeit nicht möglich, in ein anderes deutsches Bundesland umzuziehen. „Das ginge nur, wenn ich Arbeit hätte, aber arbeiten darf ich ja nicht“, sagt er.
Wenn er denn umziehen dürfte, gut möglich, dass er Arbeit hätte und vorerst nicht abgeschoben werden könnte. Denn Balde hat Freunde aus dem Senegal, die in Nordrhein-Westfalen leben und anders als er eine Ausbildung machen dürfen. „Wenn ich ihnen von meiner Situation in Bayern erzähle, können sie kaum glauben, dass ich auch in Deutschland lebe“, sagt er.
Hinweis: In der ersten Version dieses Artikels war zu lesen, im vergangenen Jahr sei etwa jeder zweite Mensch aus Afghanistan als Flüchtling anerkannt worden, im Januar 2017 nur noch knapp jeder fünfte. Diese Aussage ist nicht richtig und wurde im Text korrigiert.