Tisch decken, Kaffee aufsetzen, Wäsche abhängen. Mit der eiligen Routine eines Hausmädchens geht Delhani (Juliette Navis) ihrer Arbeit nach. Als sie vom Balkon in den Hinterhof blickt, den gerade ein junger Mann (Moustapha Al Kar) im Laufschritt durchquert, fällt ein Schuss. Getroffen sinkt der Mann zu Boden und verschwindet im Fallen hinter einem Schutthaufen. Nur seine Füße sind vom Haus aus noch zu sehen.
Ein Alltagsmoment, der von den Schrecken des Bürgerkriegs eingeholt wird – genau um diesen Kontrast geht es in „Innen Leben“. Oder besser gesagt: um die Auflösung dieses Kontrasts, denn im Kriegszustand wird der Schrecken zum Alltag. Der Film des belgischen Regisseurs Philippe Van Leeuw ist der erste große Spielfilm über den syrischen Bürgerkrieg. Das Besondere daran: „Innen Leben“ erzählt vom Krieg in der Form eines Kammerspiels. Abgesehen von jenem fatalen Schuss zeigt der Film keine Straßenkämpfe oder Luftangriffe, die die Nachrichten über Syrien dominieren, sondern den häuslichen Alltag zweier Familien.
Schon jetzt ein Spielfilm über Syrien – geht das?
Die Fiktion kann manchmal schneller sein als die Wirklichkeit. Man denke an Science-Fiction-Klassiker, die technische und soziale Entwicklungen teils Jahrzehnte vor ihrer realen Umsetzung beschrieben haben. Umgekehrt können Fiktionen aber auch von der Realität überholt werden. Gerade Spielfilme zu politischen Themen sind oft so aktuell wie die Zeitung von gestern, wenn sie nach jahrelanger Produktionsdauer endlich im Kino anlaufen.
Auch „Innen Leben“, eine belgisch-französisch-libanesische Koproduktion, war mehr als drei Jahre in Arbeit – eine halbe Ewigkeit bei einem unübersichtlichen Konflikt wie dem Syrienkrieg, in dem viele Parteien gegeneinander kämpfen und sich die Frontverläufe dauernd ändern. Zudem sind die realen Bilder aus Syrien so unmittelbar und erschütternd, dass es eine Farce wäre, wenn man etwa zeitgleich in Studiokulissen das zerstörte Aleppo nachbauen würde. Etliche Dokumentarfilme wie „Die letzten Männer von Aleppo“ (Dänemark/Syrien 2017) wollen deshalb mit drastischen Trümmerbildern aufrütteln und zeigen reale Personen beim Kampf ums nackte Überleben. Was könnte ein Spielfilm dem schon hinzufügen?
Die Stärke des Films liegt in der Reduktion
Regisseur und Drehbuchautor Philippe Van Leeuw löst diese Schwierigkeiten souverän. Vieles deutet er deshalb bloß an. Dass etwa rund um die Wohnung in Damaskus gekämpft wird, erfährt man nur über die Tonspur: aus den Gesprächen, Radioansagen oder gedämpft erklingenden Detonationen. Die Bilder dazu assoziiert dann ein jeder aus dem eigenen Nachrichtengedächtnis. Und statt von den großen Zusammenhängen zu erzählen – von Kriegsursachen, Konfliktparteien und politischen Zielen –, bleibt „Innen Leben“ ganz bei seinen Figuren, elf Menschen aus zwei Familien, die eine Art Zweckgemeinschaft gebildet haben. Um sich zu schützen, haben sie sich in einer Wohnung verbarrikadiert.
Auch Samir, der von einem Scharfschützen getroffene Mann im Hof, gehört mit Frau und Kind zur Hausgemeinschaft. Ihre Wohnung wurde zerstört, und die Nachbarin Oum Yazan (Hiam Abbass) hat die junge Familie aufgenommen. Für die eigenen Angehörigen, die drei Kinder und den Schwiegervater, versucht Oum einen Rest von Normalität zu wahren. Deshalb verbietet sie dem Hausmädchen Delhani, von dem Ereignis am Morgen zu berichten. Vor allem Samirs Frau Halima (Diamand Abou Abboud) soll vorerst nichts erfahren, um sich und andere nicht auch in Gefahr zu bringen. Doch Oum verkennt, dass die Gewalt schon bald auch über sie hereinbrechen wird.
Mit den reduzierten Mitteln des Kammerspiels und einem hervorragenden Schauspielerensemble verdichtet der Film eine universelle Kriegserfahrung, die im konkreten Bezug auf Syrien leider immer noch aktuell ist: dass im Krieg stets Unbeteiligte sterben und dass auch unschuldige Menschen Schuld auf sich laden. Alltag hätte das nicht werden dürfen.
„Innen Leben“, Belgien/Frankreich/Libanon 2017; Regie: Philippe Van Leeuw, mit Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar, Alissar Kaghadou, Ninar Halabi; 85 Minuten