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Zu stille Nacht

Nie fühlte sich unser Autor so einsam wie an Weihnachten. Über einen Schmerz, der als neue Volkskrankheit verkauft wird

Am Anfang der einsamsten Nacht meines Lebens stand ich mit einer halb ausgetrunkenen Flasche Bier im Niesel vor dem Kiosk einer Schnellstraßentankstelle in São Pedro da Aldeia, zwei Autostunden westlich von Rio de Janeiro, und sah den jungen Männern nach, wie sie in ihren Golf GTIs, aus deren Boxen Green Day dröhnte, in der stillen Nacht verschwanden.

Den gesamten Tag hatte ich gespielt, als wäre nichts. Hatte am schneeweißen Strand gelegen, gegrillten Oktopus gegessen und schließlich, da war es schon Abend, die jungen Männer mit den Bieren kennengelernt. Jetzt waren sie weg und das Spiel vorbei. Es war nicht mehr nichts: Es war der 24. Dezember. Heiliger Abend.

Und ich war allein. Vielmehr: Ich fühlte mich einsam wie überhaupt noch nie. Aber was ist das überhaupt für ein Gefühl – Einsamkeit?

Im Bauch des Internets, das stellte sich bei meiner Recherche alsbald heraus, wuchern Einsamkeits-Selbsthilfe-Seiten wie Geschwüre, Ratgeber mittelseriöser Pop-Psychologen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste ebenso. Kaum ein Medium, das sich in den letzten zwölf Monaten nicht an der Einsamkeit abgearbeitet hätte: „Volksproblem Einsamkeit“ (SRF), „Neue Volkskrankheit“ (ORF), „Die tödliche Epidemie der Moderne“ (Cicero Online).

Ein Anstieg der Einsamkeit ist wissenschaftlich bisher nicht belegt

Zwei Dinge haben fast all diese Publikationen (an die 50 habe ich durchforstet) gemeinsam: Sie sind randvoll mit vermeintlich objektiver Statistik und allesamt alarmierend. Sie haben diesen wachrüttelnden Tonfall, der uns auch vor Undercover-Islamisten oder Taschendieben in U-Bahnen warnt. Ihnen zufolge breitet sich die Einsamkeit seuchengleich aus, ist gar ansteckend.

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Einsame hatten häufiger Schlafstörungen. Sie litten öfter an Entzündungen und Kopfschmerzen, an Diabetes, Krebs und Herzinfarkten, an Schlaganfällen, an Alzheimer, Depressionen und Alkoholsucht.

Einsamkeit sei schlimmer als Übergewicht, las ich, so schlimm wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit, so mein Eindruck, ist gleich Tod. Oder genauer: ein elendiges Krepieren.

All diese Artikel liefern die Einsamkeitsursachen gleich mit: der demografische Wandel, das Verschwinden der traditionellen Familie, die steigende Zahl der Single-Haushalte (41 Prozent aller Deutschen!). Und auch die fortschreitende Urbanisierung, die die auf dem Land Gebliebenen irgendwo im Nirgendwo und die Auszügler in der gesichtslosen Masse der fremden Metropole vereinsamen lässt.

Beim Ulmer Bestseller-Psychiater Manfred Spitzer („Einsamkeit, die unerkannte Krankheit“, „Cyberkrank!“ und „Digitale Demenz“) ist es das Internet, das abwechselnd verblödet und einsam macht.

Inzwischen hat sich selbst die Politik aufgerafft, etwas gegen die vermeintlich neue Volkskrankheit zu unternehmen. In Großbritannien hat Theresa May ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen, nachdem das Rote Kreuz in der Einsamkeit eine „Epidemie im Verborgenen“ ausgemacht hatte.

Foto: Niccolò Rastrelli (Foto: Niccolò Rastrelli)
Einsam ist, wer unglücklich alleine ist (Foto: Niccolò Rastrelli)

Der familienpolitische Sprecher der Union, Marcus Weinberg, forderte im Januar in der „Bild“-Zeitung eine „Enttabuisierung“ des Themas und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im selben Artikel, es müsse auch in Deutschland künftig einen Verantwortlichen geben, „der den Kampf gegen Einsamkeit koordiniert“.

Während ich das lese, stauen sich in meinem Hirn Fragen: 15 Zigaretten – was zur Hölle? Filterkippen oder Selbstgedrehte? Und welche Marke? Waren da nicht Tinder und das Internet, und konnte man da nicht Partner für dieses und jenes finden, wenn man nur wollte? Und: Was kommt zuerst, die Depression oder die Krankheit? Macht die Krankheit einsam oder die Einsamkeit krank?

Wer einsam ist, dem fehlen nicht die Menschen, sondern das Gefühl, von ihnen anerkannt und gebraucht zu werden

Vor allem aber stellte ich mir zwei Fragen: Erstens: Wo liegen die Statistiken begraben, die den seuchenartigen Anstieg von Einsamkeit bezeugen? Und zweitens: Was ist Einsamkeit überhaupt?

Die erste Frage ist schnell beantwortet: nirgends. Wissenschaftlich wurde ein internationaler dramatischer Einsamkeitsanstieg bisher nicht eindeutig belegt, weil aussagekräftige Studien über die letzten Jahrzehnte schlicht fehlen. Ich bin überzeugt: Die Einsamkeitsepidemien und neuen sozialen Massenphänomene sind entweder schludrig berechnet oder falsch abgeschrieben.

Die zweite Frage ist schwieriger. „Einsam ist, wer unglücklich alleine ist“, sagt die Gesundheitspsychologin Sonia Lippke. Wer einsam ist, dem würden nicht die Menschen fehlen – sondern das Gefühl, von ihnen beachtet, anerkannt, gebraucht zu werden, sagte der 2018 verstorbene Chicagoer Psychologe John Cacioppo.

Er versuchte, Einsamkeit zu messen, indem er seine Probanden fragte, wie oft ihnen Gemeinschaft fehlt, wie oft sie sich ausgeschlossen fühlen und wie oft sozial isoliert. Laut Bundesregierung ist Einsamkeit das „subjektive Gefühl des Alleinseins“. Ein Gefühl also erst mal, keine Krankheit.

Alterseinsame sind also womöglich anders einsam als die letzten Singles unter den Vergebenen. Das Gefühl eines einsamen Depressiven unterscheidet sich von dem des Teilzeit-Einsamen am Heiligen Abend. Der ehrgeizige Versuch, sie alle über einen Kamm zu scheren, ist zum Scheitern verurteilt. Denen, die es trotzdem tun – und davon gibt es genug –, begann ich zu misstrauen.

Stattdessen fing ich an zu recherchieren, was mein Bekanntenkreis für Einsamkeit hält:

„Einsamkeit ist Bestrafung durch Ausschluss. Wenn du arbeitsuchend bist wie ich und dir dann die Sozialhilfe gekürzt wird, dann schränkt das deinen sozialen Spielraum ein, weil du es dir kaum mehr leisten kannst, auf ein Bier zu gehen. Also bleibe ich daheim, werde einsam“, sagte mir eine Frau Anfang 30 in meinem Wiener Stammcafé.

„Einsamkeit ist ein beschissenes Gefühl. Und an Weihnachten ist dieses Gefühl noch beschissener“

„Einsam bist du, wenn dir alle sagen: Du bist super integriert, aber dein Herz dir sagt: In dieser Welt wirst du niemals dazugehören – und die einzige Welt, in der du je dazugehört hast, die gibt es nicht mehr“, sagte mir ein Freund aus Syrien, der in Berlin lebt.

Ich selbst schrieb am 24.12.2017 in mein Tagebuch: „Ich fühle mich, als wäre ich falsch abgebogen und dann verloren gegangen in einem dunklen Tunnel, in dem mich niemand mehr findet. So wie Axel, als er auf seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde die Weggefährten verliert.“

Es waren zwei Dinge, auf die ich mich mit meinen Gesprächspartnern einigen konnte: Einsamkeit ist ein beschissenes Gefühl. Und an Weihnachten ist dieses Gefühl noch beschissener.

Was Einsamkeit angeht, ist Weihnachten totalitär. Ein 24-tägiges Crescendo der Emotionen, getrieben von strahlenden Kinderaugen, Geborgenheitsschwüren und Lobgesängen auf das Familiäre, das am Heiligen Abend seinen Höhepunkt findet. Wo unter dem Jahr Grautöne sind, gibt es nur noch Schwarz oder Weiß. Gemeinsam oder einsam. Ein bisschen fühlt es sich an wie der Tag des Jüngsten Gerichts. Und auf die Einsamen wartet das Fegefeuer.

So kam es, dass ich am 24. Dezember 2017, dem einsamen Trinker in Edward Hoppers „Nighthawks“ gleich, nieselnass und mit drei verstummten Alkoholikern in der einzig geöffneten Kneipe in São Pedro da Aldeia saß, zwei gekochte Eier aß, zwei Flaschen Bier trank, eine halbe Packung Zigaretten rauchte und, während aus den Boxen Reggaeton sudelte, den Höllenschmerz spürte.

Mochten die Wissenschaftler mit ihren Zahlen die Einsamkeit nicht greifen – das Gefühl in der einsamsten Nacht meines Lebens war unverkennbar und echt.

Titelbild: Mark Peterson/Redux/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.