Wer in Venezuela zum Kühlregal will, muss mancherorts erst mal an Soldaten vorbei. Nach einer Reihe Plünderungen befahl die Regierung im Januar dem Militär, Supermärkte in mehreren Städten zu bewachen und die kurz zuvor angeordnete Preissenkung bestimmter Produkte sicherzustellen. Wegen der Nahrungsmittelknappheit – entstanden durch die Inflation und fehlender Devisen – sind die Regale aber ohnehin leer, und wegen der rasanten Geldentwertung können sich viele Venezolaner auch jetzt kaum etwas kaufen.
Die Opposition wirft Präsident Nicolás Maduro vor, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln
Will man verstehen, wie es in dem Land mit den größten Ölreserven der Welt zu einer solchen Krise kommen konnte, wirft man am besten einen Blick auf die Geschichte Venezuelas. Zu den Hauptursachen der derzeitigen Krise zählen Misswirtschaft, Korruption und der stark eingebrochene Ölpreis. Die Wirtschaft des Landes basiert fast ausschließlich auf dem Export des Rohstoffes.
Anfang Februar wertete die Regierung den Bolívar in der Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung massiv ab. Schon vorher lag die Teuerungsrate in Venezuela bei über 2.600 Prozent. Hyperinflation, die strikte Währungskontrolle, eine steigende Kriminalitätsrate, Proteste, Versorgungsengpässe und niedrige Gehälter sind aber nur ein paar der Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat: Die Opposition wirft Präsident Nicolás Maduro vor, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln. Im August 2017 hatte er das Parlament, in dem die Opposition die Mehrheit hat, entmachtet und durch eine verfassungsgebende Versammlung ersetzt. Wegen der Verletzung demokratischer Prinzipien verhängten Kanada und die USA in den vergangenen Monaten Sanktionen gegen ihn und andere Funktionäre, die EU erließ ein Waffenembargo.
Führende Oppositionspolitiker sitzen gerade im Knast oder sind ins Ausland geflohen
Die eigentlich für Dezember geplante Präsidentschaftswahl will die sozialistische Regierung um Maduro nun im Mai durchführen. Der Präsident, so befürchten Kritiker, will damit einen für ihn günstigen Moment nutzen: Drei der größten Oppositionsparteien wurden im Dezember von der Wahl ausgeschlossen, führende Oppositionspolitiker sitzen gerade im Knast oder sind ins Ausland geflohen.
Vier junge Venezolanerinnen und Venezolaner haben uns erzählt, wie die Krise ihren Alltag und ihre Zukunftspläne beeinflusst.
Cesar, 26, hat einen Master in Geschichte und einen Vollzeitjob in einer Nachrichtenagentur. Seine Miete oder regelmäßige Supermarkteinkäufe kann er mit seinem Lohn nicht bezahlen
Meine Eltern waren große Unterstützer des 2013 verstorbenen sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez, der unter anderem Tausende Unternehmen verstaatlicht hat. Sie haben sogar eine Zeit lang für die Regierung gearbeitet. Inzwischen sind sie ausgewandert, genauso wie mein Bruder.
Ich habe einen Job, aber er bringt nicht genug Geld ein, um ein normales Leben führen zu können. Ich bekomme Hilfe von Verwandten aus dem Ausland. Mit ihrer Hilfe kann ich überleben. Dinge zu kaufen, die kein Essen sind, Schuhe zum Beispiel oder Hosen? Unmöglich! Der einzige Grund, warum ich noch arbeite, ist, weil ich so zumindest eine Beschäftigung habe. Größere Projekte wie „ein Haus bauen“ oder „einen besseren Job finden“ sind komplett unrealistisch. Deshalb lebe ich von Tag zu Tag. Wenn du mich fragst, dann sieht die politische Zukunft Venezuelas sehr düster aus. Klar, alles kann passieren. Vielleicht werden auch Posten in der Regierung neu besetzt. Aber ich denke nicht, dass man sehr bald damit rechnen sollte.
Claudia, 21, studiert an der Katholischen Universität von Monteávila. Nebenbei arbeitet sie in einem Klamottenladen und an eigenen Fotoprojekten. Sie lebt bei ihren Eltern
Ich kann nicht das Leben führen, das ein durchschnittlicher junger Mensch führt. Ich habe kein Geld, um Drinks zu kaufen, kein Geld, um feiern zu gehen oder ins Kino oder einfach nur irgendetwas anderes mit meinen Freunden zu unternehmen, als abzuhängen. Und selbst wenn ich Geld hätte: Caracas ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Ausgelassene Abende stehen da nicht wirklich auf dem Plan. Es gibt so viele Probleme. Sie machen es fast unmöglich, sich als junger Erwachsener in diesem Land natürlich und unbeschwert zu entwickeln.
„Ich habe kein Geld, um Drinks zu kaufen, kein Geld, um feiern zu gehen oder ins Kino“
Ich kann mich sehr glücklich schätzen, weil meine Grundbedürfnisse gedeckt sind. Aber auch nur, weil meine Eltern mich immer noch unterstützen. Alleine würde ich absolut nicht zurechtkommen. Ich bin völlig von meinen Eltern abhängig, und zwar in fast allem, was ich mache.
Ich habe auch den Eindruck, dass die meisten jungen Leute hier nicht verstehen, wie Politik funktioniert oder funktionieren könnte. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Politik in Venezuela auf eine Frage reduziert wird: Bist du für die Regierung oder gegen sie? Andere Fragen – inhaltliche Fragen – werden kaum diskutiert. Themen wie Frauenrechte oder LGBT-Rechte kommen praktisch in keiner Agenda vor.
Roberto, 22, studiert an der Universidad Central de Venezuela, der größten Hochschule Venezuelas. Momentan hat er keine feste Arbeit, aber er übernimmt oft Gelegenheitsjobs. Roberto wohnt mit seinen zwei Schwestern und seiner Freundin bei seinen Eltern
Venezuela macht gerade schwere Zeiten durch, aber wir dürfen nicht aufgeben oder Menschen erlauben, uns zu täuschen. Die meisten Probleme, denen wir gegenüberstehen, werden meiner Meinung nach durch geopolitische Dynamiken, die Opposition und Unternehmen verursacht. Sie sind diejenigen, die gegen unsere Regierung und die Bevölkerung arbeiten und die jede Woche die Preise für Lebensmittel erhöhen. Deshalb sehen wir, wie Menschen aus der Oberschicht in exklusiven Läden einkaufen, während wir Normalos nichts zu essen haben.
Vor Chávez hatten arme Menschen in Venezuela keine Stimme. Während er Präsident war, hat sich vieles verbessert: die Sozialpolitik, Essen, Krankenhäuser und Schulen. Das hat es vorher alles nicht gegeben! Bevor Chávez gestorben ist, hat er gesagt, dass wir Nicolás Maduro, dem jetzigen Präsidenten, vertrauen sollen. Ich weiß, dass die Dinge gerade schlecht aussehen, aber wir müssen darauf vertrauen, dass alles wieder gut wird!
Daniela, 24, ist Redakteurin in einer Marketingagentur. Vergangenes Jahr verdiente sie damit 30 US-Dollar im Monat, seit diesem Jahr wird sie projektbasiert bezahlt: 3 US-Dollar pro Auftrag. Daniela hat einen Uni-Abschluss in Literaturwissenschaften und wohnt bei ihren Eltern
Jeder einzelne Teil meines Lebens ist von der Krise betroffen. Sie ist zum zentralen Gesprächsthema geworden, egal ob ich mit meiner Familie rede, mit Freunden, Bekannten oder Fremden auf der Straße. Es gibt keinen Ort und keine Aktivität, die durch das, was in diesem Land passiert, nicht verändert wurde.
„Ich habe Angst davor, krank zu werden. Selbst die gängigsten Medikamente sind schwer zu finden und sehr teuer“
Zukunftspläne zu schmieden – auch nur für die nächsten paar Tage – ist quasi unmöglich. Ich kann nicht planen, mit meinem Partner zusammenzuziehen und ein gemeinsames Leben zu führen. Ich kann keine Pläne für einen Ausflug zum Strand machen. Ich kann nicht mal Pläne für ein Abendessen machen! Um zu überleben, bin ich auf das wenige angewiesen, das ich von den Nahrungsmittelverteilungsprogrammen der Regierung bekomme. Politiker entscheiden, wann und was ich esse. Dasselbe gilt für den Großteil der Bevölkerung.
Ich habe Angst davor, krank zu werden. Selbst die gängigsten Medikamente sind schwer zu finden und sehr teuer. Meine Versicherung deckt die meisten Ausgaben nicht ab. Verhütungsmittel zu bekommen ist schon eine riesige Herausforderung: Kondome zum Beispiel sind unerschwinglich oder überhaupt nicht verfügbar. Die Regierung hat die Kontrolle über alle politischen Institutionen. Die Opposition ist nicht in der Lage, den Menschen eine Alternative zu bieten. Sehr viele Menschen haben ihr Vertrauen in sie verloren und sind überzeugt, dass die Opposition zur Komplizin der Regierung wurde. Auch ich habe das Gefühl, dass sie uns betrogen hat. Sie ist einer der Gründe, warum korrupte Politiker in der Regierung ihre Macht so lange halten konnten.
Aus dem Englischen übersetzt
Titelbild: picture-alliance / dpa