„Wenn euch schlecht oder schwarz vor Augen wird, bitte rechtzeitig Bescheid sagen, damit wir euch auffangen können, bevor ihr auf dem Boden landet“, sagt der Mann im grünen Kittel. Ein scharfer Geruch von Formalin liegt in der Luft. Es ist die zweite Einführungswoche des Medizinstudiums, und die „Erstis“ stehen zum ersten Mal im Präpsaal, dem Ort, an dem sie in den nächsten Wochen Leichen „präparieren“ und daran lernen werden. Fürs Erste wird uns nur ein Arm vorgeführt, der an der Schulter vom Rest des Körpers abgetrennt wurde. Wer will, darf sich Handschuhe anziehen und anfassen, an den Sehnen ziehen und schauen, welche Finger sich dann bewegen.
Mein Körper pumpt Adrenalin, mein Gefühl pendelt zwischen Ekel und Faszination. Schließlich siegt Letztere
Der freigelegte Arm sieht seltsam aus: Alles ist gelblich verfärbt, die Fingernägel wirken größer, und vor allem können wir hineingucken: Die Haut ist zu den Seiten geklappt, Muskelstränge, Blutgefäße und Nerven sind vom Fett befreit und deutlich zu erkennen. Mein Körper pumpt Adrenalin, mein Gefühl pendelt zwischen Ekel und Faszination. Schließlich siegt Letztere und sorgt dafür, dass ich am Präparat den Unterschied zwischen den muskelumspannten Arterien und den weicheren Venen ertaste. „Diese Verhärtung ist eine Arteriosklerose“, erklärt mir der grün gekleidete Tutor. „Da haben sich in der Arterie Ablagerungen von Fett, Blutpartikeln, Bindegewebe und Kalk gesammelt und das Gefäß verkleinert oder verschlossen.“
Eine Woche später erwarten uns im Präpsaal nicht nur Arme, sondern vollständige Körper – unter weißen, angefeuchteten Tüchern. Als diese zum ersten Mal entfernt werden, bin ich froh, dass der tote Mensch vor mir auf dem Bauch liegt und der Kopf bedeckt bleibt. An vielen Stellen sind Dellen zu sehen, die bei einem lebenden Menschen kaum vorkommen würden, die Haut ist blass und aufgequollen. Der Körper ist starr wie ein Brett. Ich kann kaum glauben, wie die Hand unseres Dozenten beim Reden auf der Leiche hin und her streicht, als wäre nichts dabei. Ich will jede Berührung vermeiden. Doch dann ist der erste Schnitt getan und der nächste klar: Die unter der Haut liegende Fettschicht muss entfernt werden, dabei dürfen Gefäße, Nerven und Muskeln keinen Schaden nehmen. Macht eigentlich Spaß. Nicht viele Studiengänge erfordern feinmotorisches Geschick.
Mir geht durch den Kopf, wer diese Menschen wohl waren, die uns ihre Körper gespendet haben
In diesen Wochen fallen mehrere von uns in Ohnmacht – ganz normal. Die ersten Tage finde ich seltsam bis unangenehm, es kostet mich jedes Mal aufs Neue Überwindung. Nach der Stunde im Präpsaal bin ich für den Rest des Tages gesättigt mit Eindrücken und auffällig müde. Mir geht durch den Kopf, wer diese Menschen wohl waren, die uns ihre Körper gespen-det haben, obwohl uns geraten wurde, darüber nicht nachzu- denken. Würde ich meinen eigenen Körper zur Verfügung stellen? Langsam merke ich, wie es zur Routine wird, den toten Körper zu berühren, dass ich den Formalingeruch kaum noch wahrnehme, dass ich den Körper vom Menschen abstrahiere. Diese Veränderung an mir zu beobachten finde ich interessant, aber auch unheimlich. Kann man sich an alles gewöhnen? Stumpfe ich ab?
Während mein Messer die Innenseite der Haut vom Fett trennt, ahne ich, wie sich der Blick eines Chirurgen auf den Menschen ändert – der Körper als Arbeitsgegenstand und weniger als Heimat einer Persönlichkeit. Aber muss das dazu führen, dass sich der eine oder andere zu spöttischen Bemer- kungen hinreißen lässt? „An dieser fetten Leiche kann man ja gar nichts erkennen.“ So ein Kommentar wäre an den ersten Tagen im Präpsaal undenkbar gewesen, doch kurz vor den Prüfungen hört man so was häufiger. Ich frage mich, ob man nicht die nötige Abstraktion erreichen kann, ohne den Respekt zu verlieren. Ich versuche, mir meine Dankbarkeit gegenüber den Körperspendern in Erinnerung zu rufen und mit dieser Haltung weiterzuarbeiten.
Illustration: Frank Höhne