Als ich meinen Zivildienst leistete, hatte ich eines Tages eine Idee: Man könnte mal einen Film drehen, in dem ein Rollstuhlfahrer und sein Zivi sich in dieselbe Frau verlieben. Ich war mit einer behinderten Schwester aufgewachsen und kannte wenige Filme, in denen dieses Thema sinnvoll behandelt wurde. Die meisten waren entweder sentimental oder krawallig, und keiner dieser beiden Ansätze spiegelte in meinen Augen das, was es da zu erzählen gab. Viele Jahre später drehten wir dann tatsächlich diesen Film, und als die Produzentin sagte: Lass uns doch mal gucken, ob wir für die Hauptrolle einen echten Rollstuhlfahrer finden, sagte ich: Na klar! Es war das Jahr 2008, heute würde man Samuel Koch besetzen oder den Film gar nicht machen, weil das Thema seit „Ziemlich beste Freunde“ durch ist, aber damals starteten wir einen Aufruf und gingen auf die Suche.
Um es kurz zu machen: Wir fanden niemanden. Ich traf auf dieser Suche hochinteressante, tolle Leute, aber schauspielern konnte keiner. Wenn man die Kamera auf sie richtete und sie bat, eine Szene zu spielen, dann reagierten sie so wie jeder normale Mensch: Sie sprachen stockend, agierten unrhythmisch und konnten ihr Unwohlsein nicht verbergen. Ihre Reaktion war damit völlig authentisch, denn vor laufender Kamera so zu tun, als wäre man jemand anders, ist in der Tat sehr seltsam. Natürlich vor der Kamera zu agieren und seinen Text lässig abzuliefern ist dagegen eigentlich das Unauthentischste, was man machen kann. Schauspielerei ist also von vornherein immer eine verstellte Verstellung.
Weg mit dem Zwang zur Echtheit, weg mit der nachgestellten Realität, wir nehmen uns die Freiheit zu spielen
Etwas später drehte ich spontan mit Freunden einen Kurzfilm, der von klischeehaften Zuschreibungen handelte (er heißt „One Shot“, und man kann ihn unter diesem Text anschauen). Hinterher saßen wir alle in meiner Küche beieinander und kamen darauf, dass Schauspieler, deren Eltern erkennbar aus nichteuropäischen Ländern stammen, hierzulande immer nur dieselben Rollen bekommen, die man kurz unter „Opfer“ und „Täter“ zusammenfassen kann. Lasst uns was dagegen unternehmen, sagte ich und fing an zu überlegen: Was ist das Un-migrantischste, das uns spontan einfällt? Vielleicht Zeugen Jehovas an der Wohnungstür? Okay, dann ziehen wir das durch! Jeder kann alles spielen!
Der Zuschauer „findet das putzig, wenn Neger deutsche Dialekte sprechen“
So kam es, dass in „3 Zimmer/Küche/Bad“ immer wieder Burak Yiğit und Maryam Zaree an irgendwelchen Türen klingeln und mit uns über die Bibel reden wollen. Das ist sehr lustig, außerdem auch absurd, denn wenn im echten Leben hierzulande Zeugen Jehovas auftauchen, dann stammen sie kaum je aus der Türkei oder dem Iran. Aber genau diese Absurdität hatte etwas Befreiendes, und zwar aus den gleichen Gründen wie oben: Weg mit dem Zwang zur Echtheit, weg mit der nachgestellten Realität, wir nehmen uns die Freiheit zu spielen.
Wieder ein paar Jahre später entstand der Film „Heil“, in dem die schwarze Schauspielerin Thelma Buabeng eine Schauspielerin spielt, die stolz verkündet, dass sie demnächst als kölsches Mädche im „Tatort“ zu sehen sein wird, denn der Zuschauer „findet das putzig, wenn Neger deutsche Dialekte sprechen“. Das war natürlich eine frontale Verarschung des Klischees, in das das deutsche Fernsehen gern verfällt. Ich bezeichne es als Klischee zweiten Grades, denn es kommt von lauter gutwilligen Leuten, die Migranten gerade eben nicht immer nur mit Kopftuch und Akzent und kriminell darstellen wollen – im Gegenteil, man will Weltoffenheit betonen, gelingende Integration zeigen und zugleich auf das Lokale herunterbrechen. Alles erst mal nicht falsch, trotzdem landet man am Ende dann doch im Klischee.
Will man überhaupt die Realität so schildern, wie sie „ist“ (und ist sie nicht für jeden anders?), oder will man sie auf den Kopf stellen, um neue Blickwinkel zu ermöglichen?
Und da ist dann der Moment erreicht, wo man sich fragen muss: Wo kommt ein Klischee überhaupt her? Steckt nicht manchmal auch ein Stück wiederkehrende Realität darin? Oder ist das Klischee vielmehr Resultat einer mangelhaft durchdrungenen Realität, die man nur aus zweiter Hand kennt? Und wie verhält man sich als Filmemacher und Erzähler dazu: Will man überhaupt die Realität so schildern, wie sie „ist“ (und ist sie nicht für jeden anders?), oder will man sie auf den Kopf stellen, um neue Blickwinkel zu ermöglichen?
Vor einigen Jahren lief der Film „Dallas Buyers Club“, in dem der Schauspieler Jared Leto eine Transfrau spielte. Er wurde für seine Darstellung sehr gelobt, zugleich gab es aber Kritik aus der Trans-Community: Anstatt einen straighten Cis-Schauspieler für seine spektakuläre Show mit dem Oscar zu prämieren, sollte man doch bitte lieber echte Transmenschen besetzen. Da gäbe es auch genügend talentierte Leute. Völlig richtig, möchte man rufen, aber schon der logische nächste Gedanke führt zu Stirnrunzeln: Dürfen dann heterosexuelle Figuren auch nur noch von heterosexuellen Schauspielern verkörpert werden, homosexuelle von homosexuellen und so weiter? Wenn man es konsequent zu Ende denkt, darf jeder nur noch ganz authentisch sich selbst spielen. Und das wäre ja offensichtlich Blödsinn – oder zumindest schade, denn gerade das Spiel mit der Verwandlung ist es ja, was uns an Film und Theater so fasziniert. Und zugleich kann ich persönlich es nicht verhindern, dass ich es immer etwas billig finde, wenn jemand spektakulär einen Behinderten mimt und dafür Preise abräumt. Der wahre Geist der Schauspielerei zeigt sich für mein Gefühl nämlich doch auf andere Weise.
Meiner Erfahrung nach können viele Leute gut sich selbst spielen – oder gerade ihr exaktes Gegenteil.
Es gibt hier am Ende (wie auf alle auch nur halbwegs interessanten Fragen) keine schnellen Antworten. Authentizität und Verwandlung sind zwei Pole, in deren Spannungsfeld wir uns immer neu positionieren müssen. Verwandlung kann magisch sein – oder auch zum Nachäffen werden, und das ist mindestens beleidigend, wenn nicht schlimmer. Meiner Erfahrung nach können viele Leute gut sich selbst spielen – oder gerade ihr exaktes Gegenteil.
Mir persönlich wäre es am liebsten, wenn man um all das nicht so ein großes Theater machen würde. Verwandlung ist gar keine so große Leistung, sondern Grundprinzip unserer Arbeit. Und Authentizität, also direkt mit eigenen Augen und allen fünf Sinnen erlebte Realität, oder auch das, was man mit dem sechsten und siebten Sinn erspürt, wenn man Leuten in die Augen schaut und ihnen zuhört und ihnen ihre Seele klaut und damit wegrennt und sie in ein Drehbuch hineinschreibt – das ist das Material, aus dem wir alles erschaffen.
Und trotzdem kann jeder alles spielen.
Oder wie Robert De Niro es mal formuliert hat: „Ich könnte auch ein Schnitzel spielen.“
Fotos: Brüggemann privat