fluter.de: Bevor wir über Identitätspolitik sprechen: Wie würden Sie diesen Begriff definieren?
Angela Nagle: Bei der Identitätspolitik geht es um die Idee, dass Gruppenidentitäten Priorität besitzen. Aus der linken Perspektive bedeutet das: Hautfarbe, Geschlecht oder Sexualität. Allerdings bezeichnen sich auch viele Rechte der Alt-Right-Bewegung als Identitäre.
Unter dem Sammelbegriff Alt-Right (Abkürzung von Alternative Right, dt.: Alternative Rechte) werden diverse Ideologien am rechten politischen Rand bezeichnet. Kern der Alt-Right-Weltanschauung ist Rassismus. Die Vertreter haben das Ziel, die Identität der weißen Bevölkerung vor Multikulturalismus, Gleichberechtigung und politischer Korrektheit zu schützen. Deshalb wird der Begriff auch immer wieder als Euphemismus für Neonazis kritisiert. Als Erfinder der Alt-Right gilt der rechtsextreme Aktivist Richard Spencer.
Sie kritisieren insbesondere „linke“ Identitätspolitiken. Glauben Sie, dass eine Politik, die sich für Belange unterschiedlicher Gruppen einsetzt, automatisch ein Problem ist?
Nein, es gibt auch viele Identitätsbewegungen aus der Vergangenheit, die ich sehr bewundere. Nehmen wir die irische Befreiungsbewegung, das war letztlich eine Identitätsbewegung. Um sich von der britischen Herrschaft losreißen zu können, mussten sich die Leute als eine Gruppe, als eine Identität definieren. Die allerwenigsten Bewegungen sind von etwas Abstraktem inspiriert, die allermeisten kreieren zunächst einmal eine kollektive Identität, über die sie dann mobilisieren können. Deshalb glaube ich nicht, dass Identitätsbewegungen per se problematisch sind. Aber momentan sorgen die Linken in der westlichen Welt dafür, dass sich zu viele ausgeschlossen fühlen.
In Ihrem Buch „Kill All Normies“ machen Sie diese linken Politiken für den Aufstieg der Alt-Right-Bewegung in den USA mitverantwortlich. Sie behaupten, „die Linke“ präsentiere sich dabei als hypersensibel und zugleich extrem autoritär. Sie beschreiben ein „akademisch-pedantes Gelüste, der Erste zu sein, der einen Fehler entdeckt“. Was ist falsch an einer Kultur, in der Rassismus oder Sexismus direkt angesprochen werden?
Na ja, was haben wir denn dadurch erreicht? Hat es die Welt bislang verbessert? Einerseits kommandieren viele Linke die Leute in Online-Foren herum und akzeptieren keine Widerrede. Andererseits tun sie so, als wären sie die alleinigen Opfer. Ein gutes Beispiel dafür sind Trigger-Warnungen: Es soll autoritär bestimmt werden, welche Literatur gelesen wird, welche Worte benutzt werden dürfen. Nur weil irgendjemand sich immer angegriffen fühlen kann. Es ist diese sehr amerikanische Version von Politik, nach der wir die Sprache verändern müssen, um die Welt zu verbessern. So müssen wir uns nicht mehr um die ökonomischen Problemursachen kümmern. Wenn die Linke auf ökonomischer Ebene versagt, kommt der Punkt, an dem sie von Sprache besessen wird. Mein Problem mit Identitätspolitik ist nicht, dass sie zu radikal, sondern dass sie erfolglos ist.
Als Safe Spaces (dt.: Sichere Räume) werden Orte bezeichnet, an denen sich die Menschen darauf verlassen können, keine Diskriminierung zu erfahren. Safe Spaces sind für Angehörige marginalisierter Gruppen gedacht, zum Beispiel für Transpersonen oder People of Color. Das Konzept etablierte sich in den Vereinigten Staaten während der Frauenrechtsbewegung der 60er-Jahre und wird seitdem vor allem an Universitäten praktiziert.
Wir sind mittendrin in der Diskussion: Funktioniert diese Gegenüberstellung von kulturellen und ökonomischen Politikzielen überhaupt?
In der Praxis sehen wir bei den Linken jedenfalls zwei verschiedene Strategien: Die eine ist mehr an materiellen Fragen interessiert. Die andere an kulturellen Identitätsfragen. Und ich glaube, die zweite fühlt sich auch in der Leitungsetage von Google und im liberalen Establishment ganz wohl. Identitätspolitik, wie wir sie derzeit erleben, fordert die Machtstrukturen nicht heraus. Denn die Machtstrukturen ändern sich nicht, solange die ökonomischen Verhältnisse unangetastet bleiben.
Es ist also eine fadenscheinige Kritik?
Sie ist einfach, fühlt sich gut an, es gibt wenig Widerstand. Auf Social Media kann man sich Identitätspolitik locker zu eigen machen. Du kannst dich als Frau positionieren, und deine Meinung wird direkt aufgewertet, einfach nur, weil du eine Frau bist. Das führt dann zuweilen dazu, dass wohlhabende Frauen sozial schwachen Männern vorwerfen, privilegiert zu sein.
Muss man die zwei vermeintlich widersprüchlichen Ansätze nicht zusammendenken? Um ein Beispiel zu nennen: Wenn eine Gesellschaft ihre Geschlechterrollen kritisch reflektiert, können sich dadurch die ökonomischen Bedingungen von Frauen verbessern.
Klar, das kann funktionieren. Ihr Beispiel weitergedacht: Die rechten Traditionalisten sagen, dass Frauen zurück an den Herd sollen. Und viele Liberale sagen, dass Frauen in den gleichen Berufen zu gleichen Bedingungen wie Männer arbeiten sollen. Doch diese Antwort ist zu einfach. Die Politik muss darauf eingehen, dass die Bedingungen eben nicht gleich sind. Nur Frauen gebären Kinder. Die bessere Antwort wäre also, die Arbeitssituation der Frauen zu verbessern, ihnen mehr Zeit zu geben, ohne sie zu benachteiligen.
Unter dem Begriff Triggerwarnung versteht man eine Anmerkung, die davor warnen soll, dass beleidigender oder erschütternder Inhalt folgen kann. Triggerwarnungen werden beispielsweise bestimmten Filmen oder Büchern vorausgeschickt. So soll verhindert werden, dass beim Publikum oder Gesprächspartner ungewollte Erinnerungen und damit verbundene Angst oder Panik ausgelöst werden.
Zu viel politische Korrektheit, sagen Sie, ist kontraproduktiv. Brauchen wir also grenzenlose freie Rede?
Nein, es muss Grenzen geben. Und wir sollten es nicht dem Staat überlassen, sie zu ziehen. Wir sollten diese Kultur selbst herstellen, und zwar durch fortlaufendes Debattieren und Verhandeln. Übertreibt man es mit den Regeln und Manieren allerdings, gibt es eine Gegenreaktion. Und diese Gegenreaktion findet gerade statt. Auf deren Welle konnte zum Beispiel Trump sehr gut reiten.
Kritiker zitieren oftmals negative Einzelfälle, um ganze Forschungsfelder ins Lächerliche zu ziehen. Ein extremer Fall von Sensibilität an der Uni – und gleich ist das Konzept Safe Space oder Triggerwarnung nutzlos. Ist das nicht viel zu einfach?
Ja, das ist es. Kritik dieser Art ist unehrlich. Und wir müssen auch anerkennen, dass es linke Aktivisten sind, die Social Justice Warriors, die seit Jahren vom Aufstieg der Alt-Right warnen. Sie haben recht behalten.
Die Social Justice Warriors haben die Alt-Right also vorhergesehen und sind gleichzeitig schuld an ihrem Aufstieg?
Ich beschuldige sie nicht. Aber ich glaube, es gibt eine Symbiose. Warum fühlt sich eine große Zahl junger Menschen von rechts angezogen? Es hat auch damit zu tun, dass sich die linke Welt als humorlos, autoritär und beleidigend präsentiert hat. Beide Lager bezeichnen sich gegenseitig als Faschisten, sie verschanzen sich immer mehr. Wenn, dann beschuldige ich die Linke dafür, dass sie diese Verbindung zwischen ihrem eigenen dogmatischen Auftreten und dem Aufstieg der Alt-Right nicht sieht.
Angela Nagle ist eine irische Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin. Ihr Buch „Kill All Normies“ (2017) sorgte für viel Aufsehen in den USA. Es ist bislang nur auf Englisch erschienen.
Titelbild: JOSH EDELSON/AFP/Getty Images