fluter.de: Fast jeder zweite aus der Haft entlassene Straftäter wird innerhalb von neun Jahren rückfällig. Sind Gefängnisstrafen überhaupt ein wirksames Mittel, um Kriminalität nachhaltig zu bekämpfen?
Frieder Dünkel: Für die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft ist das Gefängnis nicht der beste Ort. Aber wir sperren die Leute nicht nur ein, um sie zu bessern, sondern auch, weil sie Straftaten begangen haben, bei denen andere Alternativen ausscheiden – zum Beispiel, wenn von ihnen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgeht. Dann kommen wir nicht drum herum, besonders wenn Täter wiederholt straffällig werden. Was man im Hinterkopf behalten sollte, das wird etwa im europäischen Vergleich klar: Gefangenenraten, also die Zahl von Gefangenen pro 100.000 Einwohner, sind nicht Schicksal, sondern das Ergebnis kriminalpolitischer Entscheidungen. Sie sind ein Produkt der Inhaftiertenzahl mal die Länge der verbüßten Strafe.
Also: Je mehr und je länger eine Gesellschaft Straftäter einsperrt, desto mehr Straftäter gibt es laut Statistik. Oder andersherum: Je weniger Gefangene, desto weniger Kriminalität?
Genau. Das Ziel sollte immer sein, Haft zu vermeiden, soweit es geht. Wir könnten sofort zehn Prozent weniger Gefangene haben, wenn wir die Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen würden. Also die Sanktion, die jemandem droht, wenn er die Geldstrafe nicht bezahlt und auch die ersatzweise angebotene gemeinnützige Arbeit nicht verrichtet hat. Oder wenn man bestimmte Drogendelikte entkriminalisieren würde. Es geht aber nicht nur darum, wie viele Menschen wir inhaftieren, sondern auch, wann wir sie wieder entlassen. Man könnte sich ein System vorstellen, in dem Strafen generell nach zwei Dritteln zur Bewährung quasi automatisch ausgesetzt werden. Dann könnten sich die Täter in dieser Zeit mithilfe von Bewährungshelfern besser wieder eingliedern.
So etwas gibt es noch gar nicht?
Doch, aber die Handhabung ist sehr restriktiv. Nach jetziger Regelung muss der Richter eine positive Prognose stellen. Das ist bei jemandem, der zum fünften Mal inhaftiert ist, eher schwierig. Da sollte man mehr Risikofreude zeigen. Gleichzeitig sollten die ambulanten Hilfen nach der Entlassung verbessert werden. Dann kann man dieses Risiko auch vertreten.
„Das Schlechteste, was ein Staat tun kann, ist, die Gefangenen jahrelang ‚schmoren‘ zu lassen und dann ohne ausreichende Entlassungsvorbereitung auf freien Fuß zu setzen“
Warum soll man Risikofreude zeigen, wenn jemand bereits wiederholt straffällig geworden ist?
Aus der sogenannten Desistance-Forschung, also den Untersuchungen, die sich speziell mit der Frage befassen, wann und unter welchen Bedingungen auch Wiederholungstäter mit unter Umständen langen „kriminellen Karrieren“ ihren kriminellen Lebensstil aufgeben, wissen wir, dass im Allgemeinen spätestens im dritten Lebensjahrzehnt die meisten Straftäter ein gesetzmäßiges Leben führen. Dazu tragen bestimmte Lebensereignisse bei, wie etwa das Eingehen einer stabilisierenden Partnerschaft, eine berufliche Eingliederung oder eine angemessene Wohnsituation. Wichtig ist auch die bewusste Entscheidung, ein anderes Leben führen zu wollen.
Ziel des Freiheitsentzugs ist laut Gesetz auch die Resozialisierung. Viele Bürger sorgen sich aber um ihre eigene Sicherheit.
Gefangenenrate
Die höchste Gefangenenrate (heißt: Gefangene pro 100.000 Einwohner) haben die USA mit etwa 665. In Deutschland sind je 100.000 Einwohner knapp 78 Menschen inhaftiert. In skandinavischen Ländern liegt der Wert bei etwa 61.
Sicherheit ist eine Folge der Resozialisierung – kein Widerspruch dazu. Das Schlechteste, was ein Staat tun kann, ist, die Gefangenen jahrelang ohne Resozialisierungsangebote „schmoren“ zu lassen und sie dann ohne ausreichende Entlassungsvorbereitung, wie Vollzugslockerungen, auf freien Fuß zu setzen.
In Deutschland sind die Gefangenenraten seit Jahren rückläufig. Warum?
Das ist einfach: Die Gewaltkriminalität und andere schwerere Kriminalität geht entgegen der öffentlichen Wahrnehmung seit Anfang 2007 zurück.
Seit einer Reform 2006 ist der Strafvollzug in Deutschland Ländersache. Wie macht sich das bemerkbar?
Der Übergang vom geschlossenen Vollzug in die Freiheit ist in der Praxis höchst unterschiedlich. In Bayern ist der Vollzug sehr viel restriktiver als in Berlin. In Berlin oder Nordrhein-Westfalen ist momentan ungefähr ein Drittel der Gefangenen im offenen Vollzug. In Sachsen-Anhalt oder Bayern sind es nur drei beziehungsweise vier Prozent.
Skandinavische Länder setzen sehr stark auf den offenen Vollzug. Die Rückfallquoten dort sind deutlich niedriger. In Deutschland wird der offene Vollzug oft als Hotelvariante einer Haftstrafe belächelt.
Ich glaube, wenn man das der Bevölkerung genau erklären würde, würde sie anders darüber denken. Der offene Vollzug hat mit einem Hotelaufenthalt nichts zu tun, er ist sehr belastend: Jeden Tag nach draußen zu gehen, mit der Freiheit konfrontiert zu werden und sich abends wieder einschließen zu lassen, das erfordert viel Stärke. Das über Monate und Jahre durchzustehen ist eine große Leistung.
„Es wäre verfassungswidrig, wenn man Täter im Vollzug der Vergeltung wegen schlechter behandelt als andere“
Besonders wenn es um Gewalt-, Tötungs- oder Sexualdelikte geht, werden in der Öffentlichkeit oft Forderungen nach mehr Vergeltung für die Opfer laut. Zählt auch das zu dem, was eine Haftstrafe leisten muss?
Die Vergeltung drückt sich in der Länge der Strafe aus, nicht in der Ausgestaltung des Vollzugs. Da geht es nur noch um die Besserung des Täters. Es wäre verfassungswidrig, wenn man Täter im Vollzug der Vergeltung wegen schlechter behandelt als andere, man ihnen zum Beispiel keine Literatur gibt oder keinen Fernseher. Wir wissen übrigens aus Studien, dass die meisten Opfer, entgegen der medialen Darstellung, nicht rachsüchtig sind. Sie wollen eigentlich nur wissen: Warum hat er mich ausgewählt? Und hoffen, dass er es nicht wieder tut.
Auch der schlimmste Verbrecher soll die Chance haben, sich wieder einzugliedern. Funktioniert das in Deutschland im Moment so?
Rückfallquoten
Fast die Hälfte aller Inhaftierten in Deutschland wird innerhalb von neun Jahren nach der Entlassung wieder auffällig, wenn auch nicht unbedingt so, dass sie wieder inhaftiert werden müssen. Im Jugendvollzug kommt ein gutes Drittel wieder zurück in die Haft. Über 60 Prozent werden wieder auffällig. Zum Vergleich: In Norwegen sind es nur etwa 20 Prozent, also jeder Fünfte.
Es gibt sicher auch Fälle, wo es nicht optimal läuft. Aber grundsätzlich würde ich sagen: ja. Ärgerlich ist, dass es nicht genug Personal gibt und gerade bei den kürzeren Strafen der Übergang nicht rechtzeitig geplant wird. Die Wiedereingliederung ist nicht nur Sache des Strafvollzugs. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Menschen, die im Leben nicht zurechtgekommen sind, aus ihrer desolaten Lage herauszuhelfen. Vor allem muss man die Kommunen standardmäßig verpflichten, den Entlassenen beim Neustart zu helfen, für Wohnraum zu sorgen etc. In unserem eigenen Interesse. Auch das ist zum Beispiel in Skandinavien deutlich besser organisiert.
Was machen die Skandinavier anders?
Bei ihnen sitzen Arbeitsvermittlung, Wohnraumvermittlung und Bewährungshelfer an einem Tisch. Trotz allem gilt: Wir müssen damit leben, dass es immer Rückfälle geben kann. Aber wenn Sie bei einer schweren Krankheit eine Therapie finden, die nur bei ein paar Prozent der Betroffenen hilft, wird die Gesellschaft auch hohe Kosten nicht scheuen und alles versuchen, den Rückfall in die Krankheit zu verhindern. So ist es auch mit der Therapie von Straftätern – beziehungsweise so sollte es jedenfalls sein.
Titelbild: Alex Kraus/laif