Twitter tobte, Facebook schäumte. Das Foto einer etwa 7.500 Euro teuren Rolex war aufgetaucht – am! Arm! einer! Sozialdemokratin! Gefundenes Fressen für die Netzgemeinde und auch viele Trolle, jene Kommentarschreiber, die die Meinung in sozialen Netzwerken spalten wollen. Dass Staatssekretärin Sawsan Chebli als eines von zwölf Kindern einer staatenlosen Familie aus Palästina aufwuchs, dass sie mit diesem wenig privilegierten Hintergrund Karriere machen konnte, was ja für die soziale Gerechtigkeit des Gemeinwesens spricht – das spielt dann keine Rolle mehr. Wenn Trolle am Werk sind, gibt es nur noch Schwarz und Weiß. Und sehr viel Hass.
Diese Geschichte könnte aus Michal Hvoreckys „Troll“ stammen. Der Roman des slowakischen Schriftstellers und Übersetzers spielt in naher Zukunft. Ort der Handlung ist ein an die Slowakei erinnerndes osteuropäisches Land, das ein Satellitenstaat des „Reichs“ ist. Neben dem Reich, unschwer als Nachfolger der Sowjetunion zu dechiffrieren, gibt es die „Festung Europa“, die die Europäische Union abgelöst hat. In dieser gar nicht so fernen Zukunft tobt der Informationskrieg: Trollarmeen säen Unwahrheiten und lancieren Kampagnen in den sozialen Netzwerken. Die 30 Familien, die im Reich das Sagen haben, versuchen die Meinung der Bevölkerung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Der namenlose Protagonist wächst in diesem zerrissenen Klima auf. Fünf Jahre seiner Jugend verbringt er wegen einer Masernepidemie im Krankenhaus. Seine Eltern waren, wie so viele andere, vehemente Impfgegner und hatten ihm nur homöopathische Medikamente gegeben. Im Krankenhaus lernt er neben mittelalterlichen Wunderheilern auch Johanna kennen, eine kluge junge Frau, die auf eine lange Drogenkarriere zurückblickt. Ihr Blick auf die Verhältnisse im Land ist dennoch klar. Sie führt den Protagonisten aus der Echokammer der Desinformation.
„Mich hat die Wirklichkeit überrollt“, sagte Hvorecky im Interview
Gemeinsam beschließen sie, bei einer der vielen Trollarmeen anzuheuern. Den digitalen Flächenbrand wollen sie erst mit anheizen, um ihn dann von innen heraus zu löschen. Die beiden Nachwuchs-Hater sind überaus erfolgreich. Ihr Chef Valys befördert sie mehrmals. Seine Armee kämpft an allen möglichen politischen Fronten, denn das oberste Ziel der Trollarmeen heißt: Die Menschen davon zu überzeugen, dass es keine Wahrheit und keine Fakten mehr gibt.
Das Verrückte an Hvoreckys Roman ist, dass er ihn vor drei Jahren als düstere Zukunftsvision zu schreiben begann und er sich heute wie eine genaue Beschreibung der Gegenwart liest. Russische Trolle sollen bei der Brexit-Kampagne und im US-Wahlkampf ihre Finger im Spiel gehabt haben. Dabei ging es ihnen nicht unbedingt darum, Stellung für eine Seite zu beziehen. Sie wollten vor allem die Gesellschaften spalten. Viele der Trollstrategien, die die beiden Protagonisten erlernen, finden im echten Leben längst Anwendung. „Mich hat die Wirklichkeit überrollt“, sagte Hvorecky im Interview.
Wie gefährlich die Wahrheitssuche in der Slowakei enden kann, dafür steht das Schicksal von Hvoreckys Freund Jan Kucziak. Der Investigativjournalist wurde im Februar mit seiner Verlobten von einem Auftragskiller ermordet. Er hatte zu den Verstrickungen von italienischen Mafiabossen und slowakischen Spitzenpolitikern recherchiert. Seine Enthüllungen, posthum veröffentlicht, zwangen Premierminister Fico zum Rücktritt. Jenen Politiker, der kritische Journalisten „schleimige Schlangen“ und „dreckige, antislowakische Prostituierte“ genannt und mehrfach Verschwörungstheorien verbreitet hatte.
Schmerzlich führt uns der Roman vor, wie eine Gesellschaft aussieht, in der es keine Wahrheit mehr gibt
Erzählerisch hat „Troll“ durchaus Schwächen. Gute Science-Fiction denkt Entwicklungen der Gegenwart weiter und führt uns die Konsequenzen vor Augen. In „Troll“ verschmelzen das Irreale und die Gegenwart so stark miteinander, dass der Roman zwischen kritischem Essay und halbmotivierter Science-Fiction schwankt. So holzschnittartig der erste Teil des Romans die Handlung vorantreibt, so gebannt liest man doch die Schilderungen aus dem Inneren der Trollfabrik. Schmerzlich führt uns der Roman vor, wie eine Gesellschaft aussieht, in der es keine Wahrheit, also auch keine Wissenschaft und keinen unabhängigen Journalismus mehr gibt. Es geht nur noch darum, über die größte und mächtigste Trollarmee zu befehlen.
Am Ende bleibt der Leser mit Übelkeit zurück: Er hat viel Qualm dieses digitalen Flächenbrands eingeatmet. Staatssekretärin Chebli schlug für das Rolex-Foto auf Facebook ein derartiger Hass entgegen, dass sie ihren Account deaktivierte. Das Internet abschalten? Nach der Lektüre von „Troll“ wünscht man sich das heimlich.