Der 23. November 2018 war für Tunesien ein großer Tag: Das Parlament stimmte dafür, dass Frauen und Männer gleichberechtigt erben sollen. Ein Meilenstein für die arabisch-muslimische Welt, dem ein langer Weg vorausging.
Angefangen hatte die politische Debatte am tunesischen Frauentag, dem 13. August 2017. Präsident Beji Caid Essebsi hielt eine besondere Rede: Er gab bekannt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau beim Erbe zu unterstützen. „Männer und Frauen sind vor der Verfassung gleich, ohne dass es Diskriminierung geben darf", sagte er.
Bis vor kurzem orientierte sich Tunesien an Sure 4, Vers 11, Vers 12 und Vers 176 aus dem Koran. Die sind auch als Quotenregelung (?ilm al-far??i?) bekannt. Vereinfacht gesagt steht darin, dass Frauen in etwa die Hälfte von dem bekommen sollen, was der Mann erhält.
Geht das, ein säkulares Land mit islamischen Regeln?
Die Reaktionen auf Essebsis Rede fielen sehr unterschiedlich aus. Religiöse Organisationen befürchten, dass die Tunesier irgendwann „ohne Religion, ohne Identität und ohne jede Orientierung zurückgelassen werden.“ Abdelkarim Harouni, ein hochrangiges Mitglied der islamisch-konservativen Ennahda-Partei, lehnte den Gesetzentwurf ab. Ein solches Gesetz sei unvereinbar mit der tunesischen Verfassung und dem Koran. Und obwohl Tunesien ein säkularer Staat ist, wolle das Volk an islamischen Werten festhalten.
Im Herbst 2019 werden in Tunesien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Wie auch im Wahlkampf 2014 stehen vor allem gesellschaftliche Fragen im Vordergrund
Für viele andere hingegen, wie die tunesische Bürgerrechtlerin Kuthar Bulila, gehen die Neuerungen noch lange nicht weit genug. Bulila möchte rechtlich mit den Frauen in Europa gleichziehen. Die Frauenrechtlerin Raja Ben Slama rief laut BBC Arabic auf ihrer Facebook-Seite dazu auf, den „Schwindel im Recht“ zu beseitigen.
Viele junge Leute feierten Essebsi regelrecht. Dieser gehe mit der Erbrechtsreform einen „historischen Schritt“ und sage dem Patriarchat den Kampf an. Andere kritische Stimmen wie die tunesische Journalistin Asma Ghribi warfen Essebsi vor, mit solchen Reformen die Weltgemeinschaft täuschen zu wollen.
Im Zuge von Essebsis Vorschlag, das Erbrecht zu reformieren, wurde im August 2017 die Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichheit (COLIBE) einberufen. Deren Aufgabe war es, das tunesische Gesetzbuch mit der Verfassung von 2014 in Einklang zu bringen. In der neuen tunesischen Verfassung wird der Islam nicht als eine Rechtsquelle genannt, sondern nur als Staatsreligion.
„Vielleicht ist diese Debatte die Gelegenheit, dass die Tunesier kontrovers, aber nicht feindlich diskutieren.“
Im Juni letzten Jahres legte die Kommission dann ihren Abschlussbericht vor. Darin forderte sie unter anderem die Entkriminalisierung der Homosexualität, die Abschaffung der Todesstrafe (noch nicht umgesetzt) und ein gleiches Erbe für Mann und Frau. „Uns geht es um eine Debatte, eine tiefschürfende, unaufgeregte Debatte. Denn es findet eine Weichenstellung für die kommenden Generationen statt“, sagte die Kommissionsvorsitzende Bochra Belhaj Hamida bei der Vorstellung des Berichts. „Vielleicht ist diese Debatte die Gelegenheit, dass die Tunesier kontrovers, aber nicht feindlich diskutieren.“
Im Laufe des Kommunalwahlkampfes legte Essebsi nach und betonte, dass der Koran im säkularen Tunesien keine Gesetzeskraft besitze. Diejenigen, die dennoch nach klassisch islamischem Erbrecht verfahren wollen, könnten dies auch weiterhin tun. Die religiösen Gelehrten sind über all das gespaltener Meinung.
Reform des marokkanischen Familienrechts
Einige mehrheitlich islamische Länder wie die Türkei und Somalia haben bereits Gesetze verabschiedet, welche Frauen den gleichen Anteil am Erbe zusprechen. Auch in Marokko gibt es viel Streit um das islamische Erbrecht. Im März letzten Jahres waren es marokkanische Intellektuelle, die eine Petition ins Leben riefen, welche fordert, das islamische Recht nicht mehr patriarchalisch auszulegen. Asma Lamrabet, die wohl bekannteste marokkanische Frauenrechtlerin, hatte die Petition initiiert. Wie groß der Erbrechtsstreit auch in Marokko ist, wurde klar, als Lamrabet ihren Rückzug aus der Rabita al Mohamadya des Oulémas (Islamischen Liga der Gelehrten) bekannt gab. Sie forderte gleiche Anteile für Frau und Mann, und weil die anderen Gelehrten ihre Ansicht nicht teilten, trat sie aus der Liga aus.
Aktivisten legen nahe: Streitet für die künftigen Rechte eurer Töchter!
Zwar gibt es Widerstand gegen die Anpassung an die jeweiligen Begebenheiten, jedoch zeigen die Debatten auch, dass islamisches Recht und die Vorschriften des Korans verhandelbar sind. Die aktuellen Diskussionen und die Veränderung in Tunesien stehen für den vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen, das islamische Erbrecht weltweit neu zu gestalten.
Titelbild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto via Getty Images