fluter: Herr Braungart, was ist Müll?
Michael Braungart: Müll ist eine menschliche Erfindung. Wir sind die einzigen Lebewesen, die die Umwelt mit Dingen belasten, die für andere Lebewesen nachteilig sind. Was Pflanzen und Tiere hervorbringen, ist immer irgendwo, an irgendeiner anderen Stelle nützlich. Darum sind wir Menschen auch dümmer als alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten.
Die meisten Menschen fordern weniger Müll, Sie dagegen fordern, dass es gar keinen Müll mehr gibt. Wie soll das gehen?
Die Idee der Müllvermeidung ist schon das Problem. Denn dabei denken Sie ja immer noch an Müll. Ich denke dagegen ausschließlich an Nährstoffe. Alles, was uns umgibt, ist Nährstoff, für die Biosphäre oder die Technosphäre. Alles, was verschleißt – Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen –, sollten wir so gestalten, dass es nicht nur nicht giftig, sondern auch noch nützlich ist. Hinter der Forderung nach Müllvermeidung steckt ein grundlegend falsches Verständnis von Umweltschutz. Wir schützen die Umwelt nicht, wenn wir sie ein bisschen weniger zerstören oder ein bisschen weniger Müll machen. Es geht darum, alles neu zu denken. Der Abfall ist die Abweichung vom Normalen.
„Alles, was wir verwenden, sollte nach dem Verschleiß als biologische oder technische Nährstoffe genutzt werden“
Wie sieht das neue System aus, das Sie etablieren wollen?
Die Idee von „Cradle to Cradle“ ist, die Menschen als Chance für diesen Planeten zu beschreiben und nicht als Belastung. Es geht nicht darum, den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sondern einen möglichst großen Fußabdruck zu haben – der aber ein Feuchtgebiet ist. Das bedeutet, dass alles, was wir verwenden, nach dem Verschleiß als biologische oder technische Nährstoffe genutzt werden sollte. Und das funktioniert zum Beispiel so: Statt einer Waschmaschine verkauft der Hersteller nur die Dienstleistung „3000 mal waschen“, statt eines Fensters mit Aluminiumrahmen nur „10 Jahre durchgucken“. Wenn man das macht, kann das Unternehmen für die Herstellung das qualitativ beste Material verwenden, weil man weiß, dass das Material in zehn Jahren zurückkommt. Statt 40 billiger Kunststoffe, die man später nur noch zu Parkbänken „downcyceln“ kann, können die Hersteller drei gute Kunststoffe verwenden, die praktisch endlos wieder eingesetzt werden können.
Bisher ist es ja so: Ich kaufe ein Fenster mit Aluminiumrahmen, und was später mit dem Metall passiert, ist dem Hersteller egal. Was ist der Anreiz für ein Unternehmen, es anders zu machen?
Das ist ganz einfach: Stoffe wie Aluminium sind sehr viel wert. Und der Wert steigt immer weiter, weil die energie intensive Herstellung durch die CO2-Bepreisung immer teurer wird. Bei anderen Materialien ist die Seltenheit ein Faktor: Wenn ich zum Beispiel Indium in einem Gerät verbaue, muss ich wissen: Das hat die Menschheit vielleicht noch für zehn Jahre zur Verfügung. Wie kann ich so blöd sein, das zu verkaufen, wenn ich es als Hersteller doch dringend brauche. Die Lösung ist: Ich leihe das Indium an den Konsumenten nur aus. Das Motiv für ein Umdenken ist also rein wirtschaftlich.
„In meiner Vorstellung bleibt der Hersteller die ganze Zeit Eigentümer, und ich kaufe nur die Nutzungsdauer“
Und warum handelt dann derzeit kaum ein Unternehmen nach diesem Ansatz?
Die Generation von Menschen, die jetzt Entscheidungen treffen, hat das Eigentum lange angebetet wie einen Gott. Junge Leute wollen dagegen nur Dienstleistungen, die wollen das ganze Zeug nicht am Hals haben. Doch die Marktwirtschaft kommt dem noch nicht nach, weil die alten Leute noch immer so fixiert sind auf Eigentum, auf das „Habenmüssen“.
Sollte man Hersteller also einfach verpflichten, ihren Müll zurückzunehmen?
Nein, denn in meiner Vorstellung bleibt der Hersteller die ganze Zeit Eigentümer, und ich kaufe nur die Nutzungsdauer. Wenn ein Unternehmen etwas herstellt, das nicht verbrennbar oder kompostierbar ist und nicht in der Umwelt landen darf, dann bleibt das Produkt das Eigentum des Unternehmens. Und wenn ich irgendwo etwas davon finde, kann ich den Hersteller wegen der Vermüllung und der chemischen Belästigung verklagen.
Aber wenn in Tieren gefährliche Chemikalien gefunden werden, weiß ja niemand, wer der Verursacher ist.
In diesem Fall teile ich den Konzernen Quoten zu und sage: So viel habt ihr in Umlauf gebracht, das ist euer Problem, bezahlt dafür.
Derzeit stehen wir ja real vor riesigen Müllbergen in der Welt. Wie kann Ihr Konzept da helfen?
Die Reihenfolge der Aufgaben ist doch klar: Bei einer Flutkatastrophe muss man auch erst die Flut stoppen, bevor man mit den Aufräumarbeiten beginnt. Darum müssen wir auch die Müllproduktion erst stoppen und dann aufräumen. Wir haben zum Beispiel eine studentische Firma gegründet, die eine Maske entwickelt hat, die perfekt biologisch abbaubar ist. Wenn die in die Meere gelangt, ist das kein Problem, im Gegensatz zu den jetzigen medizinischen Masken, von denen mittlerweile über 2,5 Milliarden in den Weltmeeren herum schwimmen und sich dort 300 Jahre lang halten. Natürlich muss ich mich fragen, wie ich dieses Plastik wieder aus den Meeren rausbekomme – aber davor steht doch die Aufgabe, den weiteren Zustrom zu stoppen.
„Bei einer Flutkatastrophe muss man auch erst die Flut stoppen, bevor man mit den Aufräumarbeiten beginnt“
Müll entsteht nicht nur bei der Herstellung von komplexen Produkten, sondern fällt bei jedem Supermarkteinkauf massenweise an. Wie lässt sich dieser Abfall Ihrer Meinung nach vermeiden?
Ich habe in Hamburg den Müll untersucht, und 20 Prozent des Restmülls waren Windeln. Ein Baby braucht 3.000 Ein wegwindeln – statt eines Müllberges kann daraus aber auch ein Wald entstehen. Biologisch abbaubare „Cradle to Cradle“ Windeln enthalten zellulosebasierte Superabsorber, von denen ein Gramm über einen Liter Wasser speichert. Mit dem Windelverbrauch eines Babys kann man 250 Bäume in regen armen Gebieten pflanzen – und das Baby wirkt mit seinem „Abfall“ klimapositiv. Da, wo so eine produktive Zweitnutzung nicht möglich ist, muss man für Verpackungen Hightech materialien verwenden. Wenn auf alle Verpackungen, auch die von Salzstangen und Chips, ein Pfand erhoben würde, würden die Verpackungen zurück in den Laden und zu den Herstellern kommen – und könnten dann praktisch endlos wieder eingesetzt werden.
Echtes Recycling ist oft deshalb nicht möglich, weil zu viele verschiedene Materialien verbunden werden, die am Ende nicht mehr sauber getrennt werden können. Geht es bei „Cradle to Cradle“ also einfach um schlichteres Design?
In den meisten Verpackungen sind fünf bis sieben verschiedene Kunststoffe zusammengefasst. Da ist wenig mit Recycling, darum landet das Zeug dann in Bergwerken oder in Vietnam – dort läuft man meterhoch durch deutsche Verpackungsabfälle. Das ist Kolonialismus pur. Was wir stattdessen brauchen, sind Verpackungen, die nur aus einem Material bestehen und auf die ein Pfand erhoben wird. Derzeit wird überall das billigste Material eingesetzt, und dadurch wird es für die Gesellschaft viel, viel teurer. Die Gewinne bleiben bei den Unternehmen, die Risiken werden vergesellschaftet.
Stößt die Suche nach „müllarmen“ Produktdesigns in Deutschland auf besonderes Interesse?
Es gibt viele Kulturen, in denen eher in Kreisläufen gedacht wird. In Deutschland dagegen betrachten wir nie Kreisläufe, sondern denken immer nur linear. Ich nutze Deutschland eher als abschreckendes Beispiel, denn die Leute denken hier, sie machen Umweltschutz, wenn sie Verbrennungsanlagen bauen. Das Böse, der Müll, soll mit Feuer ausgelöscht werden. Und dann wird die Energie aus der Müllverbrennung noch als erneuerbare Energie ausgegeben – und wir werden für unsere Müllvernichtungsfähigkeit auf der ganzen Welt bewundert.
Ein bisschen scheint es so, als würden Sie mit dem „Cradle to Cradle“-Prinzip eine Art Perpetuum mobile für das konsumistische Zeitalter versprechen. Wir dürfen alle weitershoppen, nur ohne die zerstörerischen Auswirkungen. Das klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.
In der jetzigen Umweltdiskussion heißt es oft: „Du musst vermeiden, sparen, verzichten.“ Wenn man aber den Leuten sagt, dass sie etwas nicht haben können, dann wollen sie es erst recht haben – und denken sich: „Bevor es mir jemand verbietet, schaff ich es mir noch selber an.“ Man erreicht also genau das Gegenteil. Ich glaube, wir brauchen eine Kultur der Großzügigkeit, die zur Bescheidenheit führt – das ist zwar ein Paradox, aber so funktioniert der Mensch nun mal.
Michael Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und an der Leuphana Universität Lüneburg. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts. Er gilt als Miterfinder des „Cradle to Cradle“-Prinzips, das eine müllfreie Kreislaufwirtschaft zum Ziel hat.