An einem Wochenende im März sitzt Kateryna Glazunova, 20 Jahre, in einer kleinen Wohnung in Kiew. Auf ihrem Schoß liegt eine überdimensionale Lidschattenpalette, auf ihren Knien balanciert sie einen Spiegel. Sie will an diesem Samstagabend noch ausgehen, doch die politische Debatte im Land lässt sie nicht los. Und so sitzt sie beim Vorglühen und lässt ihrer Wut freien Lauf.
„Meine Freunde sagen manchmal, ich sei Nationalistin, weil ich Poroschenko wähle“, erzählt sie und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Aber ich weiß, was Russland bedeutet, ich habe das mit eigenen Augen gesehen.“
„Während die Menschen immer ärmer wurden, wurde der Präsident immer reicher“
Nach monatelangen Protesten auf dem Kiewer Majdan vor fünf Jahren floh der damalige Präsident Viktor Janukowitsch. Russland annektierte die Krim, und in der Ostukraine begann der Krieg. Als Petro Poroschenko 2014 Präsident wurde, warb er damit, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Doch die Kämpfe halten bis heute an. Nach UN-Schätzungen haben sie bisher über 12.000 Opfer gefordert.
Kateryna Glazunova hat wegen des Kriegs ihre Heimatstadt Donezk verlassen. Sie ist eine entschiedene Gegnerin des Schauspielers und Komikers Wolodymyr Selenskyj. Der verfüge über keine Erfahrungen als Politiker. „Er macht aus dem Wahlkampf eine Show für die sozialen Medien, und außerdem ist er eine Marionette von Kolomojskyj“, sagt sie. Ihor Kolomojskyj ist der Besitzer des Fernsehkanals 1+1, der Selenskyj bekannt machte. Viele Anhänger Poroschenkos glauben daher, hinter den politischen Ambitionen des Komikers stünde eigentlich der Oligarch Kolomojskyj, der ein erbitterter Gegner des Präsidenten ist.
Die Ukraine erlebte während Poroschenkos Amtszeit eine schwere Wirtschaftskrise. Der Krieg und die Besetzung einiger Teile des Landes ließen zwischen 2014 und 2015 die ukrainische Wirtschaft massiv schrumpfen. Die Währung verlor stark an Wert; die Preise für Strom, Gas und Wasser stiegen. Ein großer Teil der Bevölkerung verarmte. Die Schuld daran geben viele Poroschenko.
„Während die Menschen immer ärmer wurden, wurde der Präsident immer reicher“, sagt Wolodymyr Fesenko. Er ist Politologe und Leiter des Zentrums für angewandte Politikwissenschaften „Penta“. Als Poroschenko Präsident wurde, versprach er, seine Unternehmen zu verkaufen. Stattdessen zeigten investigative Recherchen wie die zu den Panama Papers, dass er geheime Briefkastenfirmen registrieren ließ. Die Ukraine durchlebe eine beispiellose Vertrauenskrise gegenüber der politischen Elite. „Das ist der Hauptgrund für den Erfolg von Selenskyj“, sagt Wolodymyr Fesenko.
Korruption bekämpfen – vom Fernsehen in die Realität
Ein weiterer Grund für Selenskyjs Aufstieg in der Politik: Er ist ein bekannter Schauspieler. Seine Paraderolle ist ausgerechnet die des ukrainischen Präsidenten in der beliebten Fernsehserie „Sluga Naroda“ (Diener des Volkes), die auf dem Fernsehsender 1+1 läuft. Er spielt einen Geschichtslehrer, der nach einer Wutrede über die politische Lage im Land plötzlich Präsident wird. In der Serie bekämpft er die korrupten Seilschaften in der Politik und vermittelt das Gefühl: Der Kampf gegen die Korruption kann einfach sein. Man müsse nur wollen. „Seine Anhänger übertragen die Handlung dieser Serie in das reale Leben“, sagt Fesenko.
Und es ist kein allzu weiter Weg von der Fernsehserie in die Realität: Bei seinem Amtsantritt hatte Poroschenko – dem sein erfolgreiches Süßwarenunternehmen seit den 1990er-Jahren den Spitznamen „Schokoladenkönig“ einbrachte – versprochen, gegen die Korruption vorzugehen. Eingelöst hat er dieses Versprechen in den Augen vieler nur bedingt. In seinem Umfeld gab es immer wieder Korruptionsskandale. So soll etwa gebrauchte oder sogar defekte Militärtechnik aus Russland in die Ukraine geschmuggelt worden sein. Technik, die dort anschließend für Unsummen dem Militär verkauft wurde. Den politischen Mythos von Gut gegen Böse, den Selenskyjs Figur in der Serie beschwört, habe er aktiv für seinen Wahlkampf nutzen können, meint Politologe Fesenko.
„Sie verweigern Poroschenko ihre Stimme, weil er den Krieg nicht beendet hat“
In Selenskyjs Wahlprogramm finden sich nur wenige konkrete Punkte, etwa ein Referendum über den Beitritt zur NATO oder die Aufhebung der Immunität des Präsidenten und der Abgeordneten. Auch den Krieg in der Ostukraine wolle er beenden. Das Wichtigste seien ein Waffenstillstand und neue Verhandlungen. Denn die sogenannten Minsker Abkommen, in denen bereits mehrfach erfolglos Waffenstillstände vereinbart wurden, funktionierten nicht.
Frieden herrscht seit fünf Jahren nicht. Kateryna, die sich in Kiew zum Ausgehen fertig macht, ist skeptisch, ob der Präsident dies hätte ändern können: „Sie verweigern Poroschenko ihre Stimme, weil er den Krieg nicht beendet hat. Das hängt doch nicht nur von ihm ab!“
Andere Wahlversprechen löste er ein. Er ermöglichte den Ukrainern die visafreie Einreise in die Europäische Union und setzte die Dezentralisierungsreform um. Besonders kleine Gemeinden in den ländlichen Regionen haben davon profitiert, wie etwa der Ort Petrykiwka, 400 Kilometer östlich der Hauptstadt. Im Rahmen der von Poroschenko unterstützten Dezentralisierungsreform wurde die 100 Jahre alte Schule renoviert. Sie beherbergt nun ein sogenanntes „Inklusionszentrum“.
Doch manche Bewohner sind auch enttäuscht und fürchten um ihre Existenz. So wie die 57 Jahre alte Näherin Olha Droshenko. Den Boden ihres kleinen Hauses hat sie mit dicken Teppichen ausgelegt, im Winter ist es darin bitterkalt. Im Dorf gibt es einen Gasanschluss, doch die Familie kann sich die hohen Preise nicht leisten. Mit den Gehältern von ihr und ihrem Mann kommt die Familie gerade so über die Runden. Milch holt sie beim Nachbarn, die Eier kommen von einigen Hühnern, die durch ihr Gemüsebeet staksen. Ihre Stimme gibt Olha Droshenko am Sonntag Selenskyj. „Vielleicht verändert ein neues Gesicht in der Politik ja was“, sagt sie und zuckt mit den Schultern.
Titelbild: Brendan Hoffman/Getty Images