Dass Moritz Körner künftig nicht mehr Schlange stehen muss, ist dann doch seltsam. Am Dienstagnachmittag nach der Europawahl sitzt Körner im Café hinter dem Plenarsaal im Europäischen Parlament, das wegen der Stühle mit den bunten runden Polstern „Micky-Maus-Bar“ genannt wird. Alte und neue Abgeordnete treffen sich hier zum Kaffee. Moritz Körner, 28, wurde für die FDP ins Europäische Parlament gewählt und hat sich eben beim „Welcome Village“ am Eingang zum Parlament seinen blauen Abgeordneten-Badge ausstellen lassen. Mit dem kann er im „Members only“-Bereich der Micky-Maus-Theke bestellen – und so die Schlange aus Mitarbeitern und Journalisten umgehen. „Hier wird mehr Hype ums Abgeordnetendasein gemacht, als ich das aus dem Landtag in Düsseldorf kenne“, sagt er. Und freut sich trotzdem, hier zu sein. Das alles sei gerade „ein bisschen aufregend“ oder: „wie Schulanfang“. Nur ohne Schultüte.
In der Woche nach der Europawahl treffen sich alte und neue EU-Abgeordnete. Alles wie Schulanfang. Nur ohne Schultüte und in aller Öffentlichkeit
Etwas Starthilfe gibt es für die eingeschulten Abgeordneten trotzdem: Die grüne Fraktion zum Beispiel hat für kommende Woche zu einem Treffen eingeladen, bei dem erklärt wird, wie die Ausschussarbeit funktioniert, aber auch, wie man Abrechnungen für Mitarbeiter macht.
Und im Parlament gibt es nach dieser Wahl erstmals „MEP Guides“, 85 speziell ausgebildete Mitarbeiter, die Abgeordnete betreuen, ihnen das Gebäude zeigen, Abläufe erklären und Treffen anbieten, um Fragen zu klären.
Während die neuen Abgeordneten sich also schon mal im Gebäude verlaufen und über Inhalte und Ausschussarbeit sprechen, haben einige Wähler noch Fragen, was die Ergebnisse der Europawahl eigentlich bedeuten und was jetzt vom Parlament zu erwarten ist. Fünf davon wollen wir heute beantworten – statt eines „MEP Guide“ also ein kleiner „EP Guide“.
Frage 1: Warum ist die Wahlbeteiligung gestiegen?
Knapp 51 Prozent der Wahlberechtigten in der EU haben ihre Stimme abgegeben, das sind 8,4 Prozentpunkte mehr als 2014. In Deutschland waren es 61,4 Prozent und 13,3 Prozentpunkte Zuwachs. Damit ist auch die Legitimation des Europäischen Parlaments gestiegen.
Das könnte damit zu tun haben, dass im Vorfeld viele Wahlkämpfer und Medien von einer „Schicksalswahl“ gesprochen haben. Es hieß, nach dem Brexit-Referendum und dem Erstarken der Nationalisten in vielen Mitgliedstaaten werde 2019 über die Zukunft der EU abgestimmt: Die gestiegene Wahlbeteiligung wird von manchen als „Ja“ zu einem vereinten Europa interpretiert. Gleichzeitig haben EU-kritische Parteien viele Wähler mobilisiert – aber auch in ihren Reihen wollen die meisten die EU nicht abschaffen, sondern „nur“ umbauen (siehe Frage 5).
Ein weiterer Grund war wohl eines der größten Wahlkampfthemen: die Klimapolitik. In einer Umfrage des Instituts Infratest Dimap gaben 48 Prozent der Befragten an, dass der Klima- und Umweltschutz das wichtigste Thema für die Wahlentscheidung war. Die Klimakrise macht nicht an der Grenze halt, sondern braucht in ihren Augen europäische Lösungen – und die kann nur mitbestimmen, wer wählen geht. Auch die soziale Sicherheit (43 Prozent), Friedenssicherung (35 Prozent) und Zuwanderung (25 Prozent) spielten für manche Wählerinnen und Wähler die größte Rolle bei ihrer Entscheidung.
Frage 2: Werden junge Wählerinnen und Wähler in der neuen Legislaturperiode besser vertreten?
Die junge Generation hat sich politisiert, im Zuge der Urheberrechtsreform und der Klimastreiks auch auf europäischer Ebene. Europaweite Zahlen zur Wahlbeteiligung nach Altersgruppen gibt es noch nicht, aber wahrscheinlich werden sie auch bei den Jungen höher ausfallen als 2014 (damals haben nur 28 Prozent der 18- bis 24-Jährigen abgestimmt). Und wenn sie das Parlament stärker mitgeformt haben und ihre Stimmen weiterhin auf der Straße und im Netz hörbar machen, werden ihre Anliegen in den kommenden Jahren womöglich besser vertreten. „Da ist was in Bewegung geraten“, sagt Moritz Körner, der nun einer der jüngsten Abgeordneten im Europaparlament ist. „Die alten Volksparteien müssen sich überlegen, wie sie die jungen Leute wieder erreichen können.“
In Deutschland hat die Politisierung der Jungen vor allem den Grünen geholfen: 36 Prozent der Erstwähler*innen, 34 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 25 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben sie gewählt. Aber junge Europäer*innen wählen nicht automatisch grün und proeuropäisch. Zum Beispiel haben auch die rechtsextreme Vlaams Belang in Belgien und die rechtspopulistische Vox in Spanien viele junge Anhänger.
Frage 3: Wird jetzt konsequente Klimapolitik gemacht?
Die Grüne/EFA-Fraktion im Europaparlament hat 19 Sitze dazugewonnen, ist aber insgesamt nur viertstärkste Fraktion. Die „grüne Welle“ hat nicht ganz Europa erfasst, sondern vor allem den Norden und den Westen, neben Deutschland etwa Frankreich, Finnland und Irland. Milan Nič, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, verweist darauf, dass es in den östlichen EU-Staaten keine umweltpolitische Tradition gibt. „Dieser Trend ist in Deutschland über 30, 40 Jahre gewachsen. Als die Grünen gegründet wurden, herrschte in den osteuropäischen Staaten noch der Kommunismus“, sagt er. Trotzdem zögen auch aus diesen Staaten verschiedene Partner für den Klimaschutz ins Europäische Parlament ein. Denn vor und nach der Wahl haben sich nicht nur die Grünen, sondern fast alle Fraktionen des Parlaments, von links über die Mitte bis konservativ, für den Klimaschutz ausgesprochen. Ob am Ende allerdings gemeinsame Mehrheiten gefunden werden, ist fraglich: Die konkreten Lösungsansätze für die Klimakrise sind in den Fraktionen unterschiedlich.
Frage 4: Wird im neuen, kleinteiligeren Europaparlament mehr gestritten?
Die christdemokratische Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten haben zwar viele Mandate und die gemeinsame absolute Mehrheit verloren. Aber im Europäischen Parlament wurde schon immer viel diskutiert, weil es dort – anders als man es aus dem Bundestag kennt – keine Regierungsdisziplin gibt. Die Mehrheiten wechseln je nach Thema. Dem in den vergangenen Tagen so gerne benutzten Begriff der „Fragmentierung“, also Zerstückelung, hat der niederländische EU-Experte Luuk van Middelaar einen bedenkenswerten Tweet gewidmet: „Können wir aufhören zu sagen, dass das neue Europaparlament ‚fragmentiert‘ ist? Als ob es eine Krankheit wäre. Wieso sagen wir nicht, dass es ‚repräsentativer‘, ‚pluralistisch‘ und ‚modern‘ ist?“
Mit zur „Fragmentierung“ beigetragen hat allerdings auch das gute Ergebnis für einige rechtspopulistische Parteien – und die könnten tatsächlich dafür sorgen, dass es mehr Streit im Parlament gibt.
Frage 5: Welchen Einfluss werden die Rechtspopulisten im Europaparlament haben?
Die EU-Gegner haben zwar nicht so stark hinzugewonnen, wie erwartet (die hohe Wahlbeteiligung hat den Rechtsruck abgeschwächt), trotzdem gehören sie zu den Siegern dieser Wahl: Die EU-skeptische EFDD- und die rechtspopulistische ENF-Fraktion haben gemeinsam 34 Mandate hinzugewonnen. Matteo Salvini, Parteichef der italienischen Lega, will im EU-Parlament eine neue rechte Allianz gründen, unter anderem mit der AfD, der österreichischen FPÖ und dem französischen Rassemblement National. Viktor Orbán hat mittlerweile ausgeschlossen, dass der ungarische Fidesz sich anschließen wird.
„Ich erwarte nicht, dass die Rechtspopulisten eine kohärente Fraktion bilden“, sagt dazu Almut Möller vom European Council on Foreign Relations. Sie glaubt, dass die Haltungen der Parteien zu großen europapolitischen Fragen dafür zu verschieden sind. Zwar haben die meisten europäischen Rechten die Strategie gewechselt und wollen nicht mehr nur blockieren, sondern inhaltlich gestalten. Aber beim Thema Migration etwa will Salvini eine europäische Lösung erreichen, damit Geflüchtete auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Ungarn und Polen lehnen das ab. „Ich denke, dass sich die Parteien eher aus taktischen Gründen immer wieder spontan zusammenfinden werden“, sagt Möller. So könnten sie die Fraktionen der Mitte zu Kooperationen drängen und sie nach außen als „große Große Koalition“ darstellen. „Die Rechtspopulisten können sich dann noch stärker als Alternative zu diesen ,etablierten Systemparteien’ inszenieren und weitere Wähler mobilisieren.“
Ein Sonderfall in den Reihen der Rechten ist die neue Brexit Party von Nigel Farage. Während die Lega, der RN oder die AfD die EU von innen heraus verändern wollen, wolle Farage „sie zerstören“, sagt Almut Möller. Die 29 Abgeordneten der Brexit Party würden nach dem Brexit – so er denn vollzogen wird – das Parlament aber wieder verlassen. Der Plan, was mit den Sitzen aller Briten (immerhin 73) passiert, steht schon lange fest: 27 davon sollen auf 14 EU-Länder verteilt werden, die derzeit unterrepräsentiert sind. 46 sollen vorerst nicht besetzt werden – als Reserve für mögliche Erweiterungen der EU.
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