Am Morgen des 27. Mai 1964 startet die kolumbianische Armee eine folgenreiche Offensive: 975 Soldaten rücken auf eine unwegsame Hochebene im Landesinneren vor, um 48 bewaffnete Bauern niederzuschlagen, die eine kommunistische Enklave gebildet hatten. Doch trotz Unterstützung aus der Luft und einer Truppe von mehreren Tausenden Mann verfehlt die Operation ihr Ziel.
Die wundersame Flucht der 48 ist der Gründungsmythos der ältesten Guerillagruppe Südamerikas, der FARC. Über 50 Jahre lang bekämpften die marxistisch inspirierten „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ den kolumbianischen Staat. Mit Entführungen und Bombenangriffen wollten sie eine gerechte Landverteilung und politische Teilhabe der besitzlosen Bauern erzwingen. Seit dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 jedoch reagierten viele Staatschefs in Lateinamerika mit harter Hand auf politische Strömungen, die die soziale Ungleichheit auf dem Kontinent anprangerten. Auch in Kolumbien war über Jahrzehnte kaum ein regierender Politiker zum Dialog mit den FARC-Guerilleros bereit.
Seit 2016 sind nach Angaben der FARC 139 Ex-Kämpfer ermordet worden
Die Folge: Mehr als 220.000 Menschen wurden in dem bewaffneten Konflikt getötet. Dass die beiden Konfliktparteien dennoch im November 2016 einen Friedensvertrag unterzeichnet haben, der den FARC-Kämpfern politische Teilhabe, weitreichende Amnestie und eine Landreform zusichert, grenzt an ein Wunder. Denn ein beträchtlicher Teil der kolumbianischen Bevölkerung lehnt den ausgehandelten Vertrag ab, wie das knappe „No“ im Referendum einen Monat zuvor gezeigt hatte. Umgekehrt haben viele in der FARC nicht vergessen, wie der letzte Friedensprozess 1984 endete: Rund 3.000 Mitglieder und Anhänger der damals entstandenen FARC-Partei Unión Patriótica wurden von Paramilitärs ermordet.
Kolumbien, benannt nach Christopher Kolumbus, grenzt an den Pazifik und das Karibische Meer, ist von den Anden durchzogen und geht im Südosten ins Amazonasbecken über. Die Bevölkerung ist mit knapp 50 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Südamerikas – und sehr divers: Neben Indigenen gibt es Nachfahren spanischer Kolonialisten, europäischer Einwanderer und afrikanischer Sklaven.
Dass die UN dennoch Mitte 2017 die fast vollständige Entwaffnung der FARC bestätigen konnten, liegt nicht zuletzt am damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos, der auch ohne Waffenruhe zu Friedensverhandlungen bereit war und der FARC mit dem Ort für die geheimen Friedensgespräche – Havanna – entgegenkam. Kuba ist seit jeher ein treuer Verbündeter linker Guerillagruppen. Zudem schien Santos alle Opfer des Konflikts im Blick zu haben: Die FARC sollte mit ihrem Vermögen Hinterbliebene entschädigen, gleichzeitig sollten sämtliche Kriegsverbrechen der vergangenen 50 Jahre ans Licht gebracht werden, also auch die der Armee.
Dieser Punkt missfällt dem konservativen Lager genauso wie der Umstand, dass selbst FARC-Kommandanten laut Friedensvertrag nur zu maximal acht Jahren Haft verurteilt werden können, sofern sie ihre Taten einräumen.
Wie umstritten das Verfahren ist, zeigt auch, dass der neue Präsident Iván Duque das bereits verabschiedete Gesetz im März zurück in das Parlament gab, weil er „Einwände“ hegte. Mittlerweile hat das Verfassungsgericht Duques Vorgehen jedoch als unrechtmäßig zurückgewiesen.
Doch auch auf der Gegenseite mehren sich die Zweifel am Friedensvertrag. Mittlerweile soll die Zahl der abtrünnigen FARC-Mitglieder auf mehr als 1.700 gestiegen sein. Der Grund: Seit 2016 sind nach Angaben der FARC 139 Ex-Kämpfer ermordet worden. Das bislang letzte Opfer ist Wilson Saavedra, der FARC-Kommandant in der Region Marquetalia war – jenem Ort, an dem vor 55 Jahren die Geschichte der FARC begonnen hat. Viele Kolumbianer hoffen, dass sein Tod dem alten Mythos kein neues Leben einhaucht.
Titelbild: Raul Arboleda/AFP/Getty Images