Das Heft – Nr. 82

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Der Algorithmus, wo ich mitmuss

TikTok soll noch süchtiger machen als andere Netzwerke. Unser Autor stellt sich auf die Probe

tiktok

Eine Frau im Bikini wälzt sich im Schnee und springt danach in einen Swimmingpool – „Ja, es war kalt “. Zwei jungen Männern mit Wasser im Mund wird ein Witz erzählt, bis einer losprustet – „Zu WILD HAHA“. Ein Typ namens @mr_socialmedia erklärt, wie man ein bewegtes Hintergrundbild fürs iPhone erzeugt. „Damit könnt ihr angeben!“. Eine Frau stürzt dreimal an einen Herd, um Milch in letzter Sekunde vor dem Überkochen zu retten, sie imitiert dabei eine US-Amerikanerin, eine Französin und eine Polin. Zehn Teenager mit Mund-Nasen-Bedeckung posen vor der Kamera, im Hintergrund läuft „Ms. Jackson“ von OutKast – „zehn chayas suchen home help“.

Das also ist meine erste Minute auf TikTok. Wenige Filmchen dauern länger als 15 Sekunden, und egal in welche Richtung ich wische, kommen mehr Videos, Videos, Videos. Ich bin erst mal überfordert.

Soziale Medien nutze ich, freundlich ausgedrückt, intensiv. Auf Facebook tausche ich mich mit dem älteren Teil meines Freundeskreises aus, auf Instagram mit dem jüngeren, auf Twitter mit fremden Menschen und Kollegen. Auf TikTok kenne ich quasi niemanden. Dabei hat die App im Herbst 2021 nach eigener Aussage die Marke von einer Milliarde monatlich aktiver Menschen geknackt. Was zwar immer noch weniger sind als bei Facebook, Instagram oder YouTube, aber: Keiner von denen hat das so schnell geschafft. Auch immer mehr Firmen und Medien glauben, auf TikTok präsent sein zu müssen. 

Ich will wissen, ob mich der Algorithmus von TikTok kriegt, also die Formel, die festlegt, welche Videos mir auf dem Startbildschirm angezeigt werden. Algorithmen sind so etwas wie das Coca-Cola-Rezept des Internets: Man kann sich zwar ungefähr vorstellen, wie sie aussehen, aber ihre ganz genaue Zusammensetzung bleibt das Geschäftsgeheimnis der Tech-Konzerne. Der Algorithmus von TikTok gilt dabei als besonders ausgefuchst, wobei das, was im Dezember 2021 durch ein Leak über ihn bekannt wurde, gar nicht so spektakulär erscheint. Sehr stark vereinfacht soll er so aussehen: Plike x Vlike + Pcomment x Vcomment + Eplaytime x Vplaytime + Pplay x Vplay.

Was auch immer genau E, V und P hier bedeuten mögen: Die Menge an Likes, Kommentaren und wie oft Videos angefangen und auch beendet wurden, spielt also eine Rolle – okay. Zusätzlich soll verhindert werden, dass ich zu viele ähnliche Videos nacheinander gezeigt bekomme – selbst wenn jedes einzelne perfekt für mich wäre –, damit sich kein Ermüdungseffekt einstellt. Außerdem sind die Hashtags, mit denen von mir gern gesehene Videos versehen sind, wichtig – das gute alte „Nutzer, die X kauften, kaufen auch Y“-Prinzip also. Wobei TikTok als kleine Starthilfe direkt bei der Anmeldung einige meiner Interessen abgefragt hat.

Die App verlangt auch sonst einiges von mir. Andere Netzwerke kann ich nebenbei durchscannen und -scrollen, TikTok will meine volle Aufmerksamkeit, und dabei soll ich möglichst auch noch den Ton anmachen. Häufig fehlt mir dafür die Geduld. Schrecklicher Verdacht: Könnte meine Aufmerksamkeitsspanne gar zu gering für TikTok sein? Aber nach und nach finde ich Dinge, die mir gefallen, dabei drücke ich eifrig den ❤-Button und folge allen Kanälen, die mir halbwegs interessant erscheinen, um der Sache eine Richtung zu geben. 

Creator wird auf TikTok schnell zum Vollzeitjob

Nach einiger Zeit weiß der Algorithmus, dass mir folgende Dinge gefallen: 1. Die Zubereitung von Essen, die hier häufig in Dutzende extrem schnell und elegant geschnittene Einzelschritte zerlegt ist. 2. Gelungene Aktionen aus Fußballspielen oder -trainingseinheiten. 3. Kurze Parodieeinlagen oder auch Sketche, bei denen eine Person stets sämtliche Rollen übernimmt, ein sehr genuines TikTok-Humorformat.

Denn das ist überhaupt sehr auffällig hier. Egal ob getanzt, gekocht, geprankt, gezaubert, gezeichnet oder aufs Fußballtor geschossen wird – fast immer sind die Creators, wie sie im TikTok-Kosmos heißen, mit im Bild, ja: im Mittelpunkt. Das gab und gibt es natürlich auch bei YouTube und Instagram und hat das Berufsbild des Influencers ja erst hervorgebracht – doch was dort ein Genre unter vielen ist, ist hier der Standard.

Welch bedeutende Rolle die Creators spielen, zeigt auch ein Blick in die Statistik. Die Listen der reichweitenstärksten Instagram- und Facebook-Kanäle bzw. -Seiten bestehen größtenteils aus Fußballern, Musikern, Marken und Models. Die meisten der großen TikToker hingegen sind durch die App und mit ihr groß geworden. Die aktuellen Top 3 sind: Charli D’Amelio, eine 17-Jährige aus Connecticut (mehr als 136 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten), die vor allem durch ihre Dance-Skills berühmt wurde; Khaby Lame, ein in Italien lebender 22-jähriger Senegalese, der als Comedian die Nutzlosigkeit scheinbar sinnvoller Lifehacks parodiert – und die philippinisch-US-amerikanische Sängerin Bella Poarch, die mit 25 schon am oberen Ende der Creator-Altersspanne steht und vor dem Beginn ihrer TikTok-Karriere im Frühjahr 2020 mehrere Jahre bei der US Navy diente.

Dass es hier so viele Unbekannte schaffen, soll auch wieder am Algorithmus liegen, der nach Angaben von TikTok keinen Wert auf die Followerzahl eines Creators legt. Nichtsdestotrotz: Fast alle Videos, die mir zufällig gezeigt werden, haben schon Zigtausende bis Millionen Abrufe und Likes. Selber einen Überraschungshit zu landen erscheint mir im Umkehrschluss ziemlich schwer. Und überhaupt ist guten Content zu produzieren deutlich komplexer als etwa auf Twitter oder Instagram, wo ein paar geniale Momente ausreichen können. Ein mittelkomplexes TikTok-Video zu schneiden erfordert solides Handwerk und kostet einige Zeit. Für TikTok-Stars kann das schnell zum Vollzeitjob werden, den sie sich unter anderem mit Product-Placement und Werbepartnerschaften oder aber durch direkte Spenden ihrer Fans in Form einer In-App-Währung finanzieren.

Noch etwas ist an TikTok besonders: Es ist das erste global bedeutende Soziale Netzwerk, das nicht in den Vereinigten Staaten erfunden wurde – sondern in China. 2016 veröffentlichte das Pekinger Unternehmen ByteDance die App Douyin, deren Klon für den internationalen Markt seit 2017 TikTok ist. Seit dem letzten Jahr redet die chinesische Regierung bei TikTok mit und sorgte wohl dafür, dass ein Video einer Nutzerin, die sich kritisch gegenüber dem chinesischen Staat äußerte, gesperrt wurde.

2018 integrierte ByteDance kurzerhand die rund 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer von Musical.ly in TikTok – einer App, die darauf basierte, dass Popsongs lippensynchron nachgesungen und nachgetanzt werden. Der Ursprung findet sich bis heute in der DNA von TikTok. Bei jedem Video wird angezeigt, was gerade auf der Tonspur los ist, und man kann mit dem Sound sofort einen eigenen Clip erstellen. So fördert TikTok ganz bewusst das, was das Social-Media-Wesen ausmacht: digitale Massenaktionen, das gemeinsame Erschaffen, Abwandeln und Verfeinern von Memes, von kurzzeitig aufbrandenden Trends und Hashtags.

Dazu gehört bei TikTok auch eine Zitat- und Duettfunktion, die zwei Creators miteinander verbindet. TikTok wimmelt nur so von Filmchen, bei denen alle den gleichen Tanzschritt, die gleiche Challenge oder die gleiche digital erzeugte Spielerei ausprobieren. Das schafft Verbindung, auch wenn die App auf den ersten Blick so aussehen mag, als wäre es ein großes narzisstisches Dancing on my own.

TikTok entwickelt einen Sog – trotz des Algorithmus, der vor allem Trash empfiehlt

Seit meiner Anmeldung sind ein paar Wochen vergangen, und ich kann inzwischen herrlich Zeit auf TikTok verplempern, von einigen populären Soundschnipseln habe ich Ohrwürmer (hallo, „Monkeys spinning Monkeys“!). Die Videos entwickeln einen Sog, weil sie so kurz sind. Und weil man so schnell zum nächsten kommt. Das kann man doch noch eben schauen. Und dann noch eins. Und noch eins. Nur noch eins! Diesen Effekt kannte ich allerdings auch schon von den Endlos-Timelines auf Twitter und Instagram.

Bloß der Algorithmus überzeugt mich nicht so wirklich: Noch immer ist auf meiner Startseite extrem viel Trash dabei. Gefällt mir allerdings ein Video, dann schau ich gern mehr von seinem Creator oder auch einen Clip gleich in Dauerschleife. Und hin und wieder finde ich echte Perlen, wie etwa Savanah Moss, die verworrene, traumsequenz­artige Minifilme dreht, die auch David Lynch gefallen würden. Oder das komplett talentfreie Berliner Zaubererduo Siegfried and Joy. Das alles rettet nicht die Welt, kann sie aber für 15 Sekunden ein wenig bunter machen.

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