In Stainbach gibt es: Fachwerkhäuser an engen Straßen. Ein Wirtshaus, das früh schließt. Einen Dorfladen. Eine Paintball-Halle. Ein großes Kurhotel. Und Wald, viel Wald. Alle jagen hier.
Willkommen in der deutschen Mittelgebirgsprovinz. Hierhin verschlägt es in Michael Venus’ Regiedebüt „Schlaf“ die Mittzwanzigerin Mona (Gro Swantje Kohlhof). Hergeführt hatte sie ein Anruf aus dem Stainbacher Krankenhaus: Man habe ihre Mutter Marlene (Sandra Hüller) eingeliefert, in einem starreartigen Wachkoma.
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Seit Jahren hatte Marlene unter wiederkehrenden Albträumen gelitten, die jedes erträgliche Maß weit überschreiten. Inständig hatte Mona sie gebeten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als Marlene dann in einer Zeitungsanzeige ein Hotel entdeckte, das genauso aussieht wie einer der Orte, die sie nur aus ihren Träumen kennt, war sie heimlich dorthin gereist. Nach Stainbach. In den Wald.
In genau dieses Hotel checkt nun auch Mona ein. Das „Hotel Sonnenhügel“ ist ein 70er-Jahre-Komplex, der seine besten Zeiten hinter sich hat, dessen Besitzer aber große Träume hegt: Zu einem Kongresszentrum soll der Sonnenhügel ausgebaut werden, mit Coworking, Yoga und allem, was dazugehört.
Doch dass sich im deutschen Wald Düsteres verbirgt, weiß jedes Kind, das seine Grimm’schen Märchen gelesen hat. Und dass in der deutschen Provinz eine Art Horror warten kann – natürlich nicht in jeder und natürlich nicht für alle –, das wissen alle, die von dort entkommen sind. Es dauert nicht lange, da wird Mona von den gleichen Albträumen wie ihre Mutter heimgesucht. Schnell ist nicht mehr klar, was Wirklichkeit ist und was Einbildung, wer gut ist und wer böse. Immer tiefer wird Mona in die dunkle Geschichte rund ums Hotel Sonnenhügel gezogen, wo sich vor über 20 Jahren gleich drei honorige Vertreter der Kleinstadtgemeinde das Leben nahmen.
Braucht Horror Zombies? Nee, Wildschweine reichen
Ruhig und dräuend entfaltet Regisseur Michael Venus in „Schlaf“ einen leisen Horror, der vor allem von Andeutungen, von kurzen Verschiebungen und Rissen in der Wahrnehmung lebt. Hier gibt es keine Zombies oder Monster, hier reichen Wildschweine und eine blasse blonde Frau für Gänsehautmomente. Ausstattung, Kamera, Kostüm, Szenenbild schaffen ein wunderbar stimmiges Setting, das nur vereinzelt unnötig aufgebrochen wird durch wild inszenierte Szenen mit Schwarzlichtfarben und Stroboskopgewitter.
In Träumen kommt mitunter Verdrängtes zum Vorschein. Und wenn es in Deutschland um Verdrängtes geht, ist die Zeit des Nationalsozialismus nicht fern. Auch in Stainbach verbirgt sich hinter dem Fachwerkidyll eine düstere Vergangenheit und kommen die Geister von einst in neuer Form wieder zum Vorschein. Je tiefer man sich darin verstrickt, desto gruseliger wird es. Und wenn man nach 102 Kinominuten schließlich wieder hinaustritt aus diesem dunklen Wald, dann findet man es etwas rätselhaft, warum das Horror- und Mysterypotenzial der deutschen Provinz bisher so wenig ausgeschöpft wurde.
„Schlaf“ (Perspektive Deutsches Kino, Deutschland 2020) feierte am 25.2. auf der Berlinale Weltpremiere, im Sommer kommt er in die Kinos. Mehr Infos gibt es hier.
Titelbild: Marius von Felbert/Junafilm