Theorie #1: Corona ist eine Erfindung des Kapitalismus
Anfang März in Berlin. In der elften Klasse der Ernst-Reuter-Schule geht es an diesem Tag um Fake News. Zwei Journalist*nnen, darunter der Autor dieses Textes, sind an die Schule gekommen, um über Quellen im Netz zu sprechen. In Berlin mussten gerade die ersten Schulen wegen Corona-Infektionen schließen, flächendeckende Schulschließungen scheinen zu dem Zeitpunkt ausgeschlossen. Eines aber ist schon an diesem Tag Gewissheit: Die Verschwörungstheorien rund um Covid-19 breiten sich mindestens so schnell aus wie das Virus selbst. Über Instagram, TikTok oder Telegram gelangen sie auch ins Klassenzimmer der Berliner Deutschklasse: „Ich habe gehört: Der Kapitalismus hat Corona erfunden, damit wir jetzt alle Hamsterkäufe machen“, erzählt ein Schüler. Andere pflichten ihm bei. Eine Umfrage ergibt: Etwa die Hälfte der Klasse hält diese Theorie für plausibel.
Was ist dran?
Nichts. Tatsächlich schadet das Coronavirus dem Kapitalismus. Kurz nachdem die Weltgesundheitsorganisation vor dem Pandemiepotenzial des Virus gewarnt hatte, stürzten weltweit die Aktienkurse ein, auch der Ölpreis brach ein. Den Volkswirtschaften vieler Länder steht die größte Rezession seit der Finanzkrise 2008 bevor, sagen Ökonomen. Zwar sind durch die Hamsterkäufe bestimmte Produkte zwischenzeitlich um ein Vielfaches mehr verkauft worden als sonst: Desinfektionsmittel, Seife, Mehl und Klopapier beispielsweise. Andere Produkte wie Bier hingegen verkaufen sich weniger als vor der Krise. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern vorübergehend Läden und Fabriken schließen mussten, was die Unternehmen Einnahmen und den Staat Steuern kostet. In Deutschland könnte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um bis zu 8,7 Prozent schrumpfen, schätzt das Institut für Weltwirtschaft in Kiel in einem Lockdown-Szenario bis Ende Juli. Das ist schlecht für die Wirtschaft – und schlecht für die Regierung. Weshalb auch Theorie Nummer zwei ziemlich abwegig ist.
Theorie #2: Corona ist ein Ablenkungsmanöver der Politik
Ende März in einer privaten Facebook-Gruppe. 73.991 Mitglieder sind hier versammelt. Ein User postet eine ganze Liste mit angeblichen Vorteilen, die das Coronavirus für Regierungen mit sich bringe: Unter anderem ließe sich die Polizeipräsenz verstärken, die Bürgerrechte einschränken oder ganz abschaffen, selbst die Verpflanzung von Chips könne nun – unter dem Vorwand der Virusbekämpfung – vorgenommen werden.
Was ist dran?
Die Theorie, dass Corona zu diesem Zweck erfunden worden sei, ist natürlich Unsinn. Corona verbreitet sich global, und vielen aktuell Machthabenden – besonders jene, die die Krise nicht in den Griff bekommen – scheint das Virus eher zu schaden. Manche der Effekte jedoch (die Chip-Verpflanzung mal ausgenommen) sind durchaus ernst zu nehmen: In Ungarn zum Beispiel hat sich am 30. März das Parlament selbst entmachtet und dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán das Recht eingeräumt, zeitlich unbefristet per Dekret zu regieren. Das System hat dadurch deutlich autoritäre Züge angenommen. Fakt ist: Auch in Deutschland sind Grundrechte derzeit stark eingeschränkt, etwa die Versammlungsfreiheit oder die Freizügigkeit. Solange sie nicht willkürlich ausgesetzt sind, sondern mit gutem Grund und zeitlich begrenzt, so wie jetzt, entspricht das aber unserer Verfassung.
In Demokratien ist es üblich, dass Rechte gegeneinander aufgewogen werden. Zum Beispiel: Privatsphäre gegen Sicherheit. Tracing-Apps sollen nachzeichnen, wie sich das Coronavirus verbreitet, Infektionsherde schneller erkennen und betroffene Personen warnen. In Österreich wird daher diskutiert, Bürger*nnen zur Nutzung der App „Stopp Corona“ zu verpflichten. Und in Deutschland wird debattiert, wie die Einführung einer freiwilligen Tracing-App so gestaltet werden kann, dass persönliche Daten sicher sind oder im besten Fall gar nicht erst erhoben werden. Einen so weitreichenden Eingriff des Staates in die Privatsphäre seiner Bürger*nnen sieht der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung jedoch kritisch.
Theorie #3: Es gibt kein Virus, nur 5G
In demselben Facebook-Post finden sich auch weniger begründete Unterstellungen. Etwa: Es gebe gar kein Coronavirus. In Wahrheit seien die Kranken und Toten Opfer der 5G-Handystrahlen. Corona sei eine Erfindung, um davon abzulenken.
Was ist dran?
Nichts. Was stimmt: Zunächst versuchte die chinesische Regierung, Informationen über die Verbreitung des Virus gezielt zu unterdrücken. Diese Strategie gab sie aber schnell auf, als sich der Protest gegen die Zensur verstärkte. Auch die Wissenschaft bemüht sich um Transparenz: Nur Tage nachdem die chinesische Regierung Anfang Januar offiziell die Existenz des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 bestätigte, teilten Virolog*nnen Informationen über das Erbgut auf der Plattform virological.org. Schnell war erwiesen: Das Virus hat große Ähnlichkeit mit dem Erreger der Lungenkrankheit SARS, der im Jahr 2002 auch in China entdeckt wurde und damals fast 800 Menschen das Leben gekostet hat. Nicht abschließend geklärt ist hingegen, wie sich das Virus auf den Menschen übertragen hat. Als mögliche Quelle gelten Fledermäuse und das Schuppentier. 5G-Handystrahlen spielen bei der ganzen Geschichte auf jeden Fall keine Rolle. Erstens weil sie im Gegensatz zu Viren nicht die DNA in menschlichen Zellen schädigen. Und zweitens weil sich das Virus auch dort verbreitet, wo es gar kein 5G-Netz gibt.
Theorie #4: Hinter Corona stecken die USA
Guatemala, 1946 bis 1948. Um das neue Antibiotikum Penicillin gegen verbreitete Geschlechtskrankheiten zu testen, stecken US-Forscher*nnen rund 1.300 Guatemaltek*nnen mit Syphilis und anderen Krankheiten an. Absichtlich und ohne deren Einverständnis. Das kam erst vor wenigen Jahren an die Öffentlichkeit. Vielleicht bezog sich der oberste Führer Irans, Ayatollah Chamenei, auf dieses Verbrechen, als er vor wenigen Tagen auf Twitter eine weit verbreitete Verschwörungstheorie für denkbar erklärte: nämlich dass US-Militärs das Virus als biologische Waffe gegen ihre Feinde einsetzten. „Die Erfahrung zeigt, dass man euch nicht trauen kann und dass ihr solche Sachen macht“, schrieb Chamenei. Noch direkter wurde der Chef der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, als er sagte: „Es könnte sich um einen Angriff der USA mit biologischen Waffen handeln.“
Was ist dran?
Nichts. Die USA und den Iran verbindet eine historische Feindschaft, und dementsprechend fällt auch die politische Propaganda aus: Der Feind hat immer Schuld – und wenn es sich um ein Virus handelt, das die eigene Regierung nicht im Griff hat. Da wundert es nicht, dass auch Russland und China die USA beschuldigen. Natürlich lässt sich die Gegenseite nicht lumpen: US-Präsident Donald Trump sprach bis vor kurzem gerne vom „chinesischen Virus“. Immerhin scheint er das Virus mittlerweile ernst zu nehmen. Denn lange gehörte der US-Präsident zu jenen, die die folgende – und wohl gefährlichste – Theorie verbreitet haben.
Theorie #5: Corona ist gar nicht so gefährlich
Griechenland, Mitte März. Der Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg ist gerade live zugeschaltet zum Interview mit der rechtspopulistischen Website Wissensmanufaktur. Er wird angekündigt als wissenschaftliche Koryphäe und als „Gegenstimme“ in all der „Panik“. Was Wodarg dann verbreitet, hat auf YouTube bislang mehr als 2,5 Millionen Menschen erreicht: dass von dem neuen Coronavirus keine besondere Gefahr ausgehe. Coronaviren, so Wodarg, kursierten schon lange in der Bevölkerung und seien deshalb während Grippesaisons schon immer für zahlreiche Todesfälle mitverantwortlich. Man habe bislang nur nie darauf getestet. Dass es durch das neue Coronavirus zu mehr Todesfällen als sonst kommt, bestreitet Wodarg.
Was ist dran?
Coronaviren sind längst in Deutschland verbreitet und können ähnlich der Grippe Erkältungen auslösen. Das ist so bei vier der sieben bislang bekannten Coronaviren, die Menschen befallen können. Was nicht stimmt: dass sie alle gleich gefährlich seien. Denn die anderen drei Coronaviren – MERS, SARS und eben das neue SARS-CoV-2 – führen zu schweren Atemwegsinfektionen. Und: Sie waren dem Menschen zuvor nicht bekannt. Folglich konnte bei seiner Entdeckung niemand dagegen immun sein. Das wiederum bedeutet: Das Coronavirus breitet sich rasant länderübergreifend aus, man spricht von einer Pandemie. Und die führt zu den Bildern, die wir derzeit aus Italien, Spanien oder den USA kennen. Zu mehreren Hundert Toten am Tag und Gesundheitssystemen, die nicht alle Patient*nnen gleichzeitig versorgen können. Zwar lässt sich noch nicht vorhersagen, wie viele Menschen an Corona sterben werden (und damit die andere zentrale Behauptung Wodargs noch nicht widerlegen). Unumstritten ist jedoch: Je weniger man die Ausbreitung verlangsamt, desto mehr Menschen werden sterben. Mehrere Faktenchecks (zum Beispiel hier, hier und hier) sowie zahlreiche Wissenschaftler*nnen bezeichneten Wodargs Äußerungen entsprechend als wenig wissenschaftlich.
Theorie #6: Corona ist eine Strafe Gottes
München, Mitte März. Der höchste religiöse Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland, Metropolit Mark, verschickt ein Schreiben an die Mitglieder seiner Gemeinde. Darin heißt es: „Lasst uns in der heutigen Heimsuchung Gottes zuallererst die göttliche Gerechtigkeit anerkennen, die uns eine Belehrung für unsere Sünden auferlegt“ Er ist überzeugt: Das Coronavirus ist die Rache Gottes für frevelhafte Eingriffe in die göttliche Schöpfung. Dazu zählen aus seiner Sicht: die Sterbehilfe, die Gleichstellung von Mann und Frau, gentechnisch veränderte Lebensmittel. Einziges Mittel, der Strafe Corona zu entgehen? Beten.
Was ist dran?
Das ist natürlich eine Frage des Glaubens – aber auch eine sehr politische. Die griechisch-orthodoxe Kirche ignorierte die Versammlungseinschränkungen lange mit dem Hinweis, Kirchenmitglieder könnten sich beim Gottesdienst sicherlich nicht mit Corona infizieren. Umgekehrt zögern manche Politiker mit besonders gläubigen Anhängern – etwa der indische Premier Modi oder die iranischen Mullahs –, religiöse Rechte strikt einzuschränken. Mittlerweile sind weltweit aber viele religiöse Stätten geschlossen, darunter die drei wichtigsten islamischen Heiligtümer. Juden in Jerusalem sind aufgerufen, die Klagemauer nicht mehr zu küssen. Und Papst Franziskus nimmt das Coronavirus gar zum Anlass, alle Kriegsparteien zur sofortigen Waffenruhe aufzurufen. Man sieht also, auch wenn Würdenträger Metropolit Mark es anders sieht: Als gläubiger Mensch kann man im Kampf gegen Corona durchaus mehr tun als nur beten.