Verkleidete  Gäste der Fastelovendsitzung -  Blick in den Festsaal

Teilhabe op Kölsch

Jeder Jeck ist anders, aber hier sind alle gleich: Dieser Verein richtet eine Karnevalsveranstaltung für armutsbetroffene Menschen aus

Text: Leonie Meyer und Fotos: Sebastian Wolf
27. Februar 2025

„Hey, loss mer springe – sulang mer noch künne“ („Hey, lass uns springen – solange wir noch können“), tönt es aus den Boxen. Als eine Tänzerin auf der Bühne durch die Luft geworfen wird, geht ein Raunen durch das Publikum. Piraten, Clowns und Menschen in Straßenkleidung sitzen an langen Tafeln in der Aula des Kölner Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasiums. Sie plaudern, schunkeln, feiern. Eine Szene, die sich eine Woche vor Weiberfastnacht so oder so ähnlich an vielen Orten dieser Stadt abspielt.

Zum 14. Mal lädt das Kölner Husaren-Korps von 1972 e.V. Wohnungs- und Obdachlose, Rentner*innen und Menschen mit wenig Geld zur „Kölsche Fastelovendsitzung för ärm Lück“ („Karnevalssitzung für arme Leute“) ein. Die Idee dazu stammt von Helga Grube und Brigitte Kypke. Heute sind die beiden Ehrengäste und werden von vielen Besuchenden im Vorbeigehen angesprochen. In den 2000ern veranstalteten die Rentnerinnen mit dem Karnevalsverein ein jährliches Essen für „Obdachlose und sozial schwache Mitbürger“. Als einige Gäste fragten, ob sie nicht eine Sitzung organisieren könnten, begannen sie zu planen. Ein ganzes Jahr habe das gedauert. „Am Anfang hatten die Gäste ihr ganzes Hab und Gut dabei. Teilweise auch Hunde“, erinnert sich die 77-jährige Helga Grube. Die Sitzung hieß da noch „Obdachlosensitzung“ und richtete sich an ebendiese. Heute ist das Publikum diverser.

Eine Tänzerin wird durch die Luft gewirbelt

Hier tanzt man für die anderen  und verlangt keine Gage

Helga Grube und  Brigitte Kypke

Ehrenfrauen: Helga Grube und Brigitte Kypke haben die ersten Sitzungen organisiert

Einige Gäste kommen seit Jahren, manche sind sogar von Anfang an dabei. Eine davon ist Maria Wolf. Während der Veranstaltung steht die Kölnerin mit zwei Freunden am Rand des Schulhofs und raucht. Ihre Erwartungen an die Feier? „Den ganzen Alltag, auch Todesfälle, einfach mal vergessen.“ Die 61-Jährige hat auch schon andere Sitzungen besucht. Bei dieser fühlt sie sich aber am wohlsten: „Hier sind relativ viele, die Sozialhilfe bekommen wie ich. Die ganzen reichen Leute sind so hochnäsig, da komme ich nicht drauf klar.“ Wolf wünscht sich mehr solcher Veranstaltungen: „Es wird ja nix mehr angeboten. Weder für die Rentner noch für die sozial Schwachen.“

Karneval für alle, die sonst außen vor sind

Die Hintergründe der Sitzungsbesucher*innen sind so vielfältig wie ihre Kostüme. Unter ihnen sind traumatisierte, alkoholabhängige, chronisch und psychisch erkrankte Menschen. Die Einlassbändchen bekommen sie an 30 sozialen Anlaufstellen in der Stadt: bei der Überlebensstation für Obdachlose am Kölner Hauptbahnhof oder der Lebensmittelausgabe. Kriterien dafür, wer kommen darf, gibt es keine. Hinsichtlich des Geschlechts ist das Publikum divers, der Großteil ist jedoch mittleren bis höheren Alters. Für sie alle ist die Sitzung ein Treffpunkt. Viele kennen sich über soziale Einrichtungen und kommen heute zusammen.

Besucher im Festsaal

Piraten, Pharaonen oder Normalos: Jeder Jecke ist willkommen, ob kostümiert oder nicht

Als die ersten Jecken eintrudeln, sind es noch drei Stunden bis zum Einlass. Am Eingang kontrollieren Helfende die Taschen. Es herrscht ein striktes Alkoholverbot. Wo sonst Bierkränze voll Kölsch balanciert werden, schenkt man hier aussschließlich Softdrinks und Kaffee aus. „Ich bin zwar Alkoholiker, aber dass es keinen Alkohol gibt, ist toll. Bei so einer Veranstaltung muss es nicht sein. Die ist auch ohne schön“, findet der Besucher Hans Theuer. Der 66-Jährige lebte fünf Jahre auf der Straße, bis er in einem Wohnheim in der Kölner Südstadt unterkam. Er ist mit Freunden und Sozialarbeitenden aus seiner Einrichtung unterwegs.

Drei Stunden unterhalten Tanzgruppen, Büttenredner und kölsche Bands das Publikum. Dazwischen verteilen Kellner*innen Getränke, Kuchen und – klassisch beim Karneval – Berliner. Zum Abschluss gibt es ein warmes Essen und Goodie-Bags. Die sind unter anderem mit Handcremes, Zahnbürsten und Milchschokolade gefüllt. Niemand muss die Sitzung mit leerem Bauch oder leeren Händen verlassen.

Drei kostümierte Gäste posieren vor einer Backsteinmauer

Viele der Gäste kennen sich schon aus sozialen Einrichtungen

Krapfen auf einem Tablet

Berliner, Pfannkuchen, Krapfen – nennt sie, wie ihr wollt, Hauptsache es gibt welche

Dass die Veranstaltung inklusive Verpflegung für die Gäste kostenlos ist, wird ermöglicht durch Geld- und Sachspenden von Unternehmen und Privatpersonen, ehrenamtliche Helfende und weil die Programmagentur und die Künstler*innen selbst auf ihre Gage verzichten. Zum Vergleich: Allein der Eintritt zur Prunksitzung des Kölner Husaren-Korps kostet 50 Euro.

Dem Alltag entfliehen? Leichter gesagt, als getan

Trotz hoher Nachfrage bleibt ein Teil der 200 Plätze im Saal frei. „Unsere Leute wollen immer gerne mit, aber wenn es darauf ankommt, fehlt manchmal der Antrieb“, erklärt die Sozialarbeiterin Rita Brandt. Sie arbeitet in der Wohneinrichtung von Hans Theuer. Viele ihrer Klienten seien kurzfristig abgesprungen. „Wir haben 20 Bänder, aber nur zehn Männer sind mitgekommen.“

Zusammenkünfte wie diese stellen für manche „ärm Lück“ eine große Herausforderung dar. Sie seien nicht nur von Armut betroffen, sondern von einem „bunten Strauß an Problemen“, berichtet Brandt. Nicht alle können oder wollen ihren Alltag für die Dauer der Sitzung vergessen. „Du musst die Leute extrem motivieren, damit sie kommen“, so die Sozialarbeiterin. Dafür muss man erst mal die Trägheit überwinden, die mit vielen psychischen Krankheiten oder Suchterkrankungen einhergeht. Wenig haben bedeutet allzu oft auch wenig teilhaben.

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