Kunst ist schön, kompliziert, unverständlich, anstrengend, wichtig, langweilig und kann weg. Je nach Sichtweise. Welchen Erfolg Kunst hat, folgt aber vor allem einer Sichtweise: der des Marktes. Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich hat deshalb den Begriff des „Siegerkünstlers“ geprägt, der sich mit hohen, teils surrealen Preisen auf dem Kunstmarkt bemerkbar macht. Und mit den Sammler*innen, die sich solche Preise leisten können, lieber unter sich bleibt.
Folgt man Ullrich, machen alle, die keine Siegerkunst machen oder kaufen, automatisch Verliererkunst. Das ist aber zu kurz gedacht: Nicht jede*r Kunstschaffende sieht sich auf dem Kunstmarkt oder als Künstler*in. So auch die sogenannten Outsider Artists.
Der Begriff bezeichnet seit knapp 50 Jahren „Außenseiterkunst“: Werke, die außerhalb des etablierten Kunstbetriebs entstehen und teils von Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung geschaffen werden. Er wirft aber heute eine große Frage auf: Ist die Trennung zwischen vermeintlich „normaler“ und „außenstehender“ Kunst inklusorisch angemessen? Oder grenzt sie aus? Schließlich gibt es auch keine Outsider-Literatur, Outsider-Küche oder Outsider-Musik. Was soll Outsider Art unterscheiden von Werken und Künstler*innen, die einfach zeitgenössisch genannt werden?
Ist Outsider Art ein diskriminierendes Etikett?
Thomas Röske will das erklären. Er leitet die Sammlung Prinzhorn für Werke von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen am Uniklinikum Heidelberg. Das Museum versteht sich als wissenschaftliche Einrichtung und ist nicht kommerziell. Hier trug der Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn während seiner Zeit als Assistenzarzt einen Großteil der Zeichnungen, Textilien, Texte, Gemälde und Skulpturen zusammen. „Outsider Art bezeichnet verblüffend originelle künstlerische Werke, deren Sprache abseits der Hochkunst oder Populärkultur liegt, weil ihre Urheber nicht in den Kunstbetrieb eingebunden sind oder ihre Schöpfungen nicht als künstlerischen Output sehen“, so Röske. Er sagt, viele der Künstler*innen verstünden es nicht als Diskriminierung, dass als Außenseiter*innen gelten.
Andere sehen das Label kritisch, weil es nicht zwischen Leben und Werk differenziert. „Man muss Kunst über die Qualität der Arbeit vermitteln und nicht über die Biografie des Künstlers“, sagt zum Beispiel die Galeristin Susanne Zander. „Deshalb stört mich der Begriff ‚Outsider‘: Er impliziert, da gibt es ein Schicksal, und deshalb müssen wir alle ganz lieb hingucken.“
Ein Hausmeister aus Chicago verliert einen Zeitungsausschnitt und verfasst in seiner Verzweiflung ein 15.000-seitiges Epos
Wie andere seine Kunst sehen, dürfte Henry Darger völlig gleich gewesen sein. Von dem Hausmeister aus Chicago, dessen Werk erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, stammen unter anderem eine 5.500-seitige Autobiografie und die viel gerühmte „Story Of The Vivian Girls in What is Known as the Realms of the Unreal, of the Glandico-Angelinian War Storm, Caused by the Slave Child Rebellion“.
Auf 15.145 Seiten erzählt Darger von sieben Prinzessinnen, den Vivian Girls, die – wie der Titel schon sagt – mit Kindersklaven gegen ihre Unterdrücker kämpfen. Darger malte in Aquarell und zeichnete mit Buntstift, die Mädchen haben Flügel und männliche Geschlechtsteile. Sie kämpfen und rennen und werden getötet, mal tragen sie Waffen im Kampf mit Dämonen, um auf der nächsten Seite friedlich miteinander zu spielen.
Wie Darger zu diesem immensen Output kam, hat der „Spiegel“ rekonstruiert: 1911 verlor Darger einen Zeitungsausschnitt, der ein zehnjähriges Mädchen zeigte, das tot aufgefunden worden war. Darger, ein gläubiger Katholik, flehte zu Gott, ihn bei der Suche nach dem Ausschnitt zu unterstützen. Als das Beten nichts half, drohte er, in seinen Zeichnungen „schreckliche Massaker zu entfesseln“. Warum Darger der Ausschnitt so viel bedeutete, ist unklar.
Künstler*innen, die die Welt magisch beeinflussen wollen. Ist die Frage nach „normaler Kunst“ dagegen nicht echt langweilig?
Die Anekdote erklärt die Outsider Art, sagt Thomas Röske. „Die Künstler sehen ihre Werke nicht als Kunst, sondern als Verbindung zur Realität, nachdem ihre alte Realität zerstört wurde. Sie schaffen Beweise oder wollen die Welt magisch beeinflussen.“ So wie Helga Goetze, eine der bekanntesten deutschen Outsider Artists. Bis zu ihrem Tod 2008 saß Goetze fast täglich barfuß vor der Berliner Gedächtniskirche, hielt ein Schild mit der Aufschrift „Ficken ist Frieden“ und wollte mit Passanten über Sexualität sprechen. Oder wie der 2014 verstorbene Adelhyd van Bender, der glaubte, seine Arbeit sei ihm von einer höheren Autorität aufgezwungen worden – und von morgens bis abends zeichnete, um diesen Missbrauch vor Gericht beweisen zu können. Seine Werke überließ van Bender der Sammlung Prinzhorn, nachdem seine Wohnung unter deren Last zusammenzubrechen drohte.
Röske nennt auch Melvin Way, der zeitweise als „Melvin Milky Way“ arbeitete und mit Kugelschreiber „The Cocaine Files Dossier“ zu Papier brachte: komplizierte mathematische Formeln, die wie feine Zeichnungen wirken. Hat Way seine eigene Formel für Kokain entwickelt? In jungen Jahren nahm er Drogen und zeigte Anzeichen einer psychischen Erkrankung, erzählt Röske. Way habe gefürchtet, seine Formeln könnten die Welt zerstören, wenn sie in falsche Hände geraten.
Das Interesse an der Außenseiterkunst nehme zu, sagt Röske. Die Preise steigen, Werke sind in Museen und auf der Biennale zu sehen, und es gibt eine eigene Messe, die Outsider Art Fair. „Die Menschen haben ein Bedürfnis, sich mit irrationalen Zugängen zur Welt zu befassen“, meint Röske. „Die Irrationalität ist ein Teil unserer Welt.“ In dieser Lage sei Outsider Art besonders hilfreich: Sie könne unseren Blick von starren Kategorien zum Kern künstlerischer Tätigkeiten richten: Fantasie und gestalterische Arbeit. Die Frage, was „normal“ ist und was nicht, ist dagegen ziemlich langweilig.
Titelbild: Courtesy Melvin Way und Christian Berst Art Brut