Die Behauptung des Neonazi-Aussteigers Christian Picciolini klang im Original weder reißerisch noch überraschend: Natürlich würden Rechte versuchen, online gezielt junge Menschen vom Rand der Gesellschaft anzusprechen. Das geschehe unter anderem in Multiplayer-Spielen.
Das war eine von vielen Antworten, die er im Rahmen einer „Ask-Me-Anything“-Fragerunde auf Reddit gegeben hatte. Vier Tage später klang die Meldung bei der britischen Boulevardzeitung „The Sun“ so: „GAMER DANGER – Reformed Neo-Nazi reveals how White Supremacists use FORTNITE to radicalise kids“.
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Propaganda findet sich längst nicht nur in Fortnite-Foren
Schnell hatte die „Sun“ das passende Reizwort ausgemacht: „Fortnite“ ist sehr erfolgreich, heruntergeladen von rund 125 Millionen Menschen, beliebt bei Kindern und Jugendlichen. Dabei hatte Picciolini ganz explizit auf die Breite und die Wahllosigkeit der Rekrutierung hingewiesen. Im Visier seien Spiele wie „Fortnite, Minecraft, COD, all of them.“ Und das Gleiche geschehe auch in Selbsthilfeforen, etwa für Depressionen.
Videospiele haben eine politische Dimension – hier werden Kulturkämpfe ausgetragen wie anderswo auch. Sie werden kritisch auf ihren Bedeutungsgehalt untersucht. Nach Jahrzehnten der undifferenzierten Grundsatzkritik von außen sind es heute Entwickler und Kritiker innerhalb der Szene, die den Diskurs prägen. Aber mit der Politik der Spiele an sich hat Picciolinis Behauptung wenig zu tun. „Fortnite“, „Minecraft“ und „Call of Duty“ (COD) sind Multiplayer-Spiele mit Millionenpublikum. Ansonsten haben sie wenig gemeinsam.
Auf der Spieleplattform Steam florieren rechtsradikale Gruppen
Einige Spiele werden in der Szene durchaus mit bestimmten politischen Gruppen in Verbindung gebracht. Nazis vergnügen sich mit dem Strategiespiel „Panzer General“, Mitglieder der Antifa mögen angeblich die terroristische Anarchisten-Fraktion in „Counter Strike: Global Offensive“ (GO). Da bleiben sie freilich nicht allein: „Counter Strike: GO“ ist eines der erfolgreichsten Multiplayer-Spiele auf dem populären PC-Spieledienst Steam. Wer es spielt, der stößt häufig auf allerlei politische Statements, auch auf einschlägige Nutzernamen und Profilbilder. Dass rechtsradikale Gruppen auf der Spieleplattform Steam generell florieren, hat der Kulturwissenschaftler Christian Huberts kürzlich im Spielemagazin „WASD“ nachgewiesen.
„Lootboxen“ bringen Spieleentwicklern viel Geld ein – ihr Suchtpotential ist enorm
Huberts geht in seiner Reportage auf ein übliches Wahrnehmungsproblem ein: Politische Zuordnungen sind online nicht immer klar. Steckt hinter dem Adolf-Hitler-Profilbild ein Nazi, oder will hier nur wieder ein Troll provozieren? Sich selbst, die eigene Einstellung und jede Äußerung online gar nicht so zu meinen ist ein beliebter Schutzschild. Alles Zweifelhafte ist im Zweifelsfall ironisch gemeint. Also werden solche Grenzübertretungen schnell ignoriert.
Aber auch von der ewigen Abgeklärtheit haben viele inzwischen einen Kater. Auf Youtube und in Gaming-Foren waren unterschiedliche Reaktionen auf die Behauptung des Ex-Neonazis Christian Picciolinis auszumachen.
Einerseits folgten Journalisten wie Tim Pool der Troll-Interpretation – die vermeintlichen Nazis seien in aller Regel nur Provokateure, denen man nicht auf den Leim gehen solle. Viele Spielefans haben aber die Nase voll: „Steam groups are rife with this shit“ – „der Scheiß nimmt überhand bei Steam“, sagt ein User im Gaming-Forum Reset Era zu der Picciolini-Meldung und stößt auf breite Zustimmung. „It’s getting hard to tell what’s serious and what’s ‚satire‘“, beklagt ein anderer auf Reddit.
Gaming-Dienste wirken mal überfordert, mal desinteressiert daran, Hassrede einzudämmen
Dass man die Trolle nicht identifizieren kann, gilt als das eigentliche Problem. Wie groß die organisierten Gruppen online sein mögen, wie häufig sie ernsthaft versuchen, Spieler für ihre Sache zu gewinnen, lässt sich kaum nachweisen. Zwischen zwei Runden „Counter Strike“ etwas Rassistisches zu sagen und damit die Gesinnungen in der Gruppe auszuloten ist nicht mit besonderen Risiken behaftet. Grenzen zu testen, jede Eskalation nur als provokanten Witz gemeint zu haben, bis sie irgendwann normal klingt, ist eine Erfolgsstrategie. Über zwei Milliarden Menschen spielen, sehr viele tun es online, und Gaming-Dienste wie Steam oder die beliebte Chat-App Discord wirken mal überfordert, mal desinteressiert daran, ihren Plattformen zu überprüfen. Dass es tatsächlich ernst gemeinte, organisierte Bewegungen gibt, gilt als erwiesen. Im Februar dieses Jahres haben Anna Biselli und Markus Reuter für die digitale Nachrichten-Website Netzpolitik aufgedeckt, wie es in einer „rechtsradikalen Troll-Armee“ zugeht.
Junge Leute lassen sich mit Videospielen erreichen. Wie sehr sie dabei wirklich auf Inhalte jenseits des Spiels ansprechen, erprobt gerade eine weitere Gruppe. Der angehende Klimaforscher Henri Drake streamt gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern „Fortnite“ – und beantwortet nebenbei Fragen zur Erderwärmung. Das Publikum ist bisher eher klein. Immerhin haben die Wissenschaftler beim gemeinsamen Bauen und Ballern sichtbar Spaß.
Titelbild: Frank Höhne