Ja – aber nur, wenn sich einiges ändert
sagt Anna Friedrich
Habe ich Lust, bis ins hohe Alter zu arbeiten? Natürlich nicht. Aber gibt es eine Alternative? Nein. Ich bin 34 Jahre alt und arbeite als Journalistin. Meine Arbeitstage sind voll bis obenhin, ich jongliere gefühlt mit zehn Bällen in der Luft: interne Meetings, Interviews führen, Texte schreiben, Deadlines einhalten, Texte von Kolleginnen und Kollegen gegenlesen. Mit 70 Jahren kann ich dieses Tempo nicht mehr schaffen, das ist mir klar.
Aber: Unser Rentensystem hat ein Problem. Wir müssen länger arbeiten, zumindest wenn sich nicht grundlegend etwas am System ändert. Die aktuelle Rechnung geht nämlich nicht auf: In Deutschland werden immer weniger Kinder geboren, also werden künftig weniger Menschen als heute arbeiten und in die Rentenkasse einzahlen. Zudem gibt es immer mehr Ältere, die etwas aus dem Rententopf bekommen. Nach bisheriger Logik müssen also mehr junge Leute in Deutschland arbeiten und in die Rentenkasse einzahlen oder die alten Menschen weniger aus dem Topf bekommen, damit es für alle reicht. Beides keine realistische oder gute Option.
Schon heute arbeitet in Deutschland jeder fünfte 65- bis 69-Jährige, unter anderem, um die Rente aufzustocken. Und wenn die letzten aus der Babyboomer-Generation in Rente gehen, brauchen Unternehmen noch dringender Fachkräfte als jetzt schon. Die Frage ist für mich also nicht, ob ich länger arbeiten will, sondern wie das funktionieren kann.
Es muss machbare Jobs für Senioren und Seniorinnen geben
Ich bin 1989 geboren worden, laut Statistik werde ich also etwa 80 Jahre alt. Doch die Statistik ist eben nur das: eine Statistik. Meine Oma, die 1923 geboren wurde, hat es bis 93 geschafft. Wenn ich also mit 67 Jahren in Rente gehe, habe ich womöglich noch ein ganz schönes Stück vor mir. Ich kenne mich: Wenn ich nichts zu tun habe, wird mir schnell langweilig. Gleichzeitig ist klar: Je älter man wird, desto mehr gesundheitliche Probleme hat man. Schwer heben, lange stehen und von Termin zu Termin hetzen ist dann nicht mehr drin. Wie lässt sich also in Zukunft sicherstellen, dass Menschen im Alter arbeiten können, aber nicht verarmen, wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sind?
Aus meiner Sicht muss die Politik dafür gleich zwei Dinge verändern: Sie muss ein System schaffen, das die Beiträge so investiert, dass das Geld sich vermehrt. Und das geht nun mal am besten am Kapitalmarkt. Norwegen zum Beispiel garantiert seinen Bürgerinnen und Bürgern einen festen Rentenbetrag, der aus den Gewinnen des norwegischen Staatsfonds finanziert wird. Kein Wunder also, dass das skandinavische Land im Global Retirement Index des Investmenthauses Natixis den ersten Platz belegt. Das Ranking untersucht Faktoren wie Finanzen im Ruhestand, Lebensqualität und materiellen Wohlstand – und Deutschland landet hier nur auf Rang neun, mit deutlichen Abzügen beim materiellen Wohlstand.
Der aus meiner Sicht noch fundamentalere Punkt: Es muss machbare Jobs für Senioren und Seniorinnen geben. Eine Erzieherin wird mit 70 Jahren nicht mehr hinter dem Nachwuchs herrennen können (und wollen). Mit Hüftschmerzen den ganzen Tag an der Supermarktkasse sitzen? Auch keine gute Idee. Von körperlich schweren Arbeiten und Schichtdienst ganz abgesehen. Deshalb brauchen wir Jobs, die wertschöpfend sind und gleichzeitig machbar im hohen Alter. Wer 40 Jahre Dächer gedeckt hat, kann in seinen letzten Arbeitsjahren zum Beispiel sein Wissen an Azubis weitergeben, ohne selbst auf Häuser zu klettern, Kundinnen und Kunden anrufen und telefonisch beraten. Eine Erzieherin könnte Spiele vorbereiten, den Mittagsschlaf beaufsichtigen oder beim Zähneputzen helfen. Natürlich nicht acht Stunden am Stück, fünf Tage die Woche. Sondern in Teilzeit. Und mit genügend Pausen. Die Arbeitgebenden würden so von der zusätzlichen Arbeitskraft, dem Wissen und der Erfahrung der älteren Mitarbeitenden profitieren.
Wäre es nicht besser, das Arbeitsleben anzugehen wie einen Marathon?
Und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Sie hätten etwas davon, wenn sich das Verständnis von Arbeit insgesamt wandeln würde. Heute gleicht das Arbeitsleben einem sehr langen Sprint, an dessen Ende viele nach Luft japsend am Boden liegen. Wäre es da nicht besser, das Arbeitsleben anzugehen wie einen Marathon, bei dem man ein Tempo wählt, das man über eine lange Zeit auch halten kann, indem man dieses Tempo an das steigende Alter anpasst?
Für mich gehört Arbeit genauso zum Leben dazu wie Schlafen oder Essen. Dafür erwarte ich aber auch, dass sich die Arbeitsbedingungen an meine Lebensphasen anpassen. Heute kann ich Vollgas geben. Wenn bei mir zu Hause Kinder toben, hat meine Familie Priorität. Flexibles Arbeiten würde für mich also bedeuten, dass wir über unser gesamtes Arbeitsleben hinweg Job und Leben gut miteinander verbinden können. Ob das nun Teilzeitarbeit ist, ein Sabbatical – oder altersgerechte Belastung. Solange die Arbeit mir Spaß macht und ich die Aufgaben bewältigen kann, ist mir dann auch egal, ob ich bis 67 oder 70 Jahre arbeite.
Mit der Rente will sich Anna Friedrich, Jahrgang 1989, eigentlich noch lange nicht befassen müssen. Doch immer wenn der Rentenbescheid kommt, traut die leitende Redakteurin bei der Wirtschaftsredaktion „wortwert“ vor Schreck ihren Augen nicht.
Nein – es gäbe zu viele Verlierer:innen
findet Celine Schäfer
Ich liebe meinen Job. Ich bin Reporterin, ich verdiene Geld damit, mich mit interessanten Leuten zu unterhalten, Veranstaltungen zu besuchen, zu denen die meisten Menschen keinen Zugang haben, und darüber dann zu schreiben. Ganz ehrlich: Ich könnte mir vorstellen, das für den Rest meines Lebens zu machen, auch noch mit 70 (dann aber gern in einem Landhaus in Südfrankreich oder so). Aber ich weiß auch, dass meine Arbeitssituation privilegiert ist.
Deshalb steigt mein Puls, wenn Politiker:innen vorschlagen, die existierenden Regeln zur Rente noch zu verschärfen. Im Mai 2023 etwa forderte der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die Vorruhestandsoption abzuschaffen. Sie ermöglicht Menschen, schon nach 45 Beitragsjahren in Rente zu gehen. Das soll diejenigen belohnen, die schon lange ins System einzahlen. Es profitieren vor allem Menschen, die eine Ausbildung gemacht haben und so schon früh angefangen haben zu arbeiten.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte 2022 in einem Interview, dass mehr Menschen erst mit 67 in Rente gehen sollten. Und der Wirtschaftsweise Martin Werding forderte im Sommer 2023, die Arbeitszeit an die steigende Lebenserwartung zu koppeln.
Menschen, denen ihr Renteneintrittsalter nicht so wichtig ist, sind oft privilegiert
Solche Vorstöße sehen andere Expert:innen kritisch. Ein Team aus Wissenschaftler:innen der Universität Mannheim und der Universität Barcelona hat herausgefunden: Je länger Menschen im Rentenalter weiterhin arbeiten, desto früher sterben sie. Bei 60- bis 69-Jährigen steigt das Sterberisiko um 4,2 Prozentpunkte pro zusätzlichem Arbeitsjahr. Die Forscher:innen haben ihre Studie zwar in Spanien durchgeführt, sind sich aber sicher, dass sich die Ergebnisse auch auf Deutschland übertragen lassen.
In einem Interview mit ZEIT Online sagt die Mannheimer Professorin Han Ye, die an der Renten-Studie mitgearbeitet hat: „Wenn die Vorruhestandsoption wegfällt, wirkt sich das negativ auf die Gesundheit aus.“ Und ergänzt: „Vor allem für jene, die anstrengende Jobs haben.“
Denn eines der zentralen Ergebnisse ihrer Studie lautet: Bei Angestellten, die in ihren Jobs hohen körperlichen oder psychischen Belastungen ausgesetzt sind, steigt das Sterberisiko durch längeres Arbeiten besonders stark. Betroffen sind davon etwa Geringqualifizierte aus dem Bausektor, aber auch Arbeitnehmende im medizinischen Bereich, für die eine spätere Rente besonders gefährlich sein kann.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Menschen, denen ihr Renteneintrittsalter nicht so wichtig ist, sind oft privilegiert. Sie arbeiten in Jobs, in denen sie meist weniger belastet werden. Sie sitzen in Büros, in denen die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass ihnen ein Dachziegel auf den Kopf fällt oder vor ihnen Augen ein Mensch stirbt. Noch dazu verdienen sie ein so gutes Gehalt, dass sie sich am Monatsende nicht sorgen müssen, ihre Miete nicht zahlen zu können, oder vielleicht sogar auf eigene Kosten früher in Rente gehen können. Insgesamt gibt es viele Verlierer:innen, wenn das Rentenalter immer weiter hochgesetzt wird – und nur wenige, denen es nichts ausmacht.
Ein unbestrittenes Problem ist der demografische Wandel. Deutschland wird immer älter, also gehen immer mehr Menschen in Rente. Sie leben von Beiträgen, die wir, die Jungen, in die Rentenkassen einzahlen. Dieses Geld reicht schon heute nicht für ein gutes Leben im Alter. Für die Jungen, die in 30 oder 40 Jahren aufhören zu arbeiten, sieht es noch düsterer aus.
Es existieren schon jetzt Konzepte, die Einzelne vor Altersarmut und Abrackern schützen können
Aber – und damit die gute Nachricht zum Schluss – es gibt durchaus Ideen, wie das deutsche Rentensystem in Zukunft zumindest teilweise stabilisiert werden könnte. Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, damit vor allem Frauen mehr in Vollzeit arbeiten können, der Ausbau von Betriebsrenten oder das Abschmelzen sehr hoher Renten sind nur ein paar davon.
Im Übrigen existieren schon jetzt Konzepte, die Einzelne vor Altersarmut und Abrackern schützen können. Zum Beispiel die Teilrente, bei der Angestellte in den letzten Jahren vor dem Ruhestand schon weniger arbeiten. Sie ermöglicht es Rentner:innen, neben ihrer Rente ein gewisses Einkommen aus einer Teilzeitbeschäftigung zu erzielen, ohne dass ihre Rentenleistungen vollständig gekürzt werden. Teilrentner:innen erhalten nur einen Teilbetrag ihrer Rentenansprüche, wie viel genau, können sie sich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens selbst aussuchen. Die Teilrente kann also einerseits das gesamte Rentensystem und andererseits die einzelnen Arbeitnehmer:innen entlasten. Denn, auch das zeigt die Studie der Forscher:innen aus Mannheim und Barcelona: Menschen, die in Teilzeit schrittweise in Rente gegangen sind, leben länger.
Celine Schäfer, Jahrgang 1996, arbeitet als freie Journalistin. Das Thema Arbeitskampf wurde ihr quasi in die Wiege gelegt – sie kommt aus dem Ruhrgebiet, und ihr Opa hat in diesem Jahr 70-jähriges Jubiläum als Gewerkschaftsmitglied gefeiert.
Collagen: Renke Brandt