Thema – Karriere

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Das Zeitfenster zwischen arm und reich

Immer mehr Menschen wollen Teilzeit arbeiten, vor allem jüngere. Aber: Entstehen damit neue Ungerechtigkeiten? Eine Frage für den Arbeitsmarktforscher Hans Rusinek

Quiet Quitting

fluter.de: Es ist nicht lange her, da wurde noch damit angegeben, wie viel und wie hart man arbeitet. Warum wollen heute so viele weg von der Vierzigstundenwoche?

Hans Rusinek: Ich glaube, wir haben Arbeit lange fetischisiert. Gerade in der sogenannten Wissensarbeit, also am Schreibtisch, wo es keine handfesten Ergebnisse gibt. Da fühlte man sich dann erfolgreich, wenn es mal wieder richtig viel und stressig war.

Und jetzt kippt diese Logik?

Ja. Die heutige Generation der Berufseinsteiger hat Eltern, die wahnsinnig viel gearbeitet haben und deren Glücksversprechen sich trotz aller Verausgabung häufig nicht eingelöst hat. Die haben vielleicht ein Eigenheim und zwei Autos in der Garage, aber glücklich, auf sozialer oder emotionaler Ebene, sind sie deshalb trotzdem nicht. Viele Junge haben anscheinend andere Anforderungen an Arbeit. Und die Pandemie hat diese Tendenz noch mal klar verschärft.

Inwiefern?

In der Pandemie haben wir gemerkt, wie verletzbar wir sind und wie schnell man ernsthaft krank werden kann. Eine Art kollektives Nahtoderlebnis, das vielen bewusst gemacht hat, wie wichtig die Dinge außerhalb der Arbeit sind. Die Prioritäten haben sich verschoben.

„Ich glaube, die Arbeitnehmer*innen waren noch nie so mächtig wie heute“

Arbeitgeber klagen über viele Teilzeitwünsche und „Quiet Quitting“, also eine Art Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität. Müssen die jetzt eine Generation von Arbeitsverweigerern motivieren?

Ich wäre generell vorsichtig mit Generationsdiagnosen: Was wir sehen, sind Phänomene dieser Altersgruppe. Diese Fragen stellen sich komplett neu, wenn die Ersten aus der Generation Z in Führungspositionen kommen und Eltern werden, also tendenziell mehr finanzielle Sicherheit brauchen oder unternehmerische Verantwortung tragen. Das Tragische ist, dass wir alle früher oder später wie unsere Alten werden.

Das ist doch ein Klischee, oder?

Seit Generationen wird erzählt, dass die jeweils Jüngeren nicht mehr so eifrig seien wie man selbst. Das Vorurteil hat schon der antike Philosoph Hesiod vor zweieinhalbtausend Jahren bemüht – und seitdem Menschen in jedem Jahrhundert. Dabei ist die Erzählung, jemand sei faul und habe generell keine Lust auf Arbeit, in den allermeisten Fällen nicht haltbar. Wir sind soziale Wesen und stark davon getrieben, etwas beizutragen und anerkannt zu werden für das, was wir tun. Zutreffender ist, glaube ich, dass viele Junge keine Lust mehr auf Überarbeitung und schlechte Arbeitsbedingungen haben. Und die Entwicklung am Arbeitsmarkt verschärft diese Haltung.

Der Personalmangel hat sich in der Pandemie weiter zugespitzt, die Generation der Babyboomer geht langsam in Rente, der Fachkräftemangel ist schon heute eklatant …

Da kreuzen sich gleich mehrere Tendenzen, die dazu führen, dass Arbeitnehmer*innen ihre Forderungen viel selbstbewusster stellen können. Ich glaube sogar, sie waren noch nie so mächtig wie heute. In vielen Bereichen, nicht in allen.

In den 1990er- und Nullerjahren wurde einem noch Angst gemacht, mit einer Lücke im Lebenslauf keinen Job zu finden. Wie hat sich das so schnell gedreht?

Der Personalmangel ist nicht allein der Demografie geschuldet. Dazu hat auch die restriktive Migrationspolitik der vergangenen Jahre beigetragen. Es vergehen oft Jahre, bis Geflüchtete und Migranten überhaupt in Deutschland arbeiten dürfen. Dazu werden Abschlüsse, die sie in ihren Ländern erworben haben, oft nicht anerkannt. Ein dritter Faktor ist die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dass beide Elternteile arbeiten, ist heute normal. Aber die Hürden beim Wiedereinstieg in den Job nach Eltern- oder Teilzeit treffen vor allem Frauen. Die konnten und können trotz hoher Qualifizierung oft nicht an ihre Karrieren anknüpfen.

„Früher hatte man die begründete Hoffnung, sich vom Lohn mal ein Häuschen oder eine Wohnung kaufen zu können. Heute nicht mehr“

Weniger Arbeit gegen weniger Lohn. Ist das eine gute Entscheidung?

Ich glaube, individuell liegen Leute damit richtig – weil es einen größeren Raum für Sinn und Tätigkeit jenseits der Lohnarbeit schafft. Meine Frau ist Psychotherapeutin, die sagt klar: Wenn man Sinn allein aus einer Rolle schöpft, also alles auf den Job setzt, landet man früher oder später beim Therapeuten. Es ist gesund zu schauen, welche Rollen noch zu uns gehören: die als Vater, als Partner, als Freund, als jemand, der in der Natur entspannt, als Ehrenamtler oder eben auch als Faulenzer.

Zumal ja ganz allgemein fraglich ist, ob es sich für Jüngere heute überhaupt lohnt, viel zu arbeiten?

Früher hatte man die begründete Hoffnung, sich vom Lohn mal ein Häuschen oder eine Stadtwohnung kaufen zu können. Mit durchschnittlichem Verdienst ist das bei den heutigen Preisen für Grund- oder Wohneigentum unmöglich. Kapital zu haben und an den Finanzmärkten zu vermehren lohnt sich hingegen immer noch. Vor allem, wenn man erbt. Das allgemeine Wohlstandsversprechen der frühen Bundesrepublik ist schon Ende der Nullerjahre gebröckelt, mit der Finanzkrise. Seitdem sind die Löhne nicht signifikant gestiegen, was heißt, dass sich Arbeit weniger lohnt.

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Hans Rusinek (Foto: Heinrich Holtgreve)

Hans Rusinek

(Foto: Heinrich Holtgreve)

Trotzdem schauen viele ältere Arbeitnehmer und Führungskräfte abschätzig auf die Jungen, die nicht mehr so viel arbeiten wollen.

Ich habe auch erlebt, dass ein Chef über eine jüngere Mitarbeiterin, die pünktlich geht, plötzlich laut hörbar für alle sagt: „Das hätte ich mir nicht erlauben können.“ Aber das ist auch nicht leicht. Viele finden es schlicht ungerecht im Vergleich zu ihrem eigenen Berufseinstieg. Es braucht eine gute Portion menschlicher Größe, zu sagen: Gut, dass sich das jetzt für euch verändert.

Muss man es sich leisten können, Stunden zu reduzieren?

Das machen vor allem hochbezahlte Berufsgruppen. Programmierer*innen, Anwält*innen, Berater*innen, Ingenieur*innen … Eben vor allem die in der sogenannten Wissensarbeit. Bisher handelt es sich um ein reines Elitenphänomen.

„Eine Dreißigstundenwoche für alle ist möglich. Die Vierzigstundenwoche und der Achtstundentag mussten auch erst erkämpft werden“

Es gibt Studien, die zeigen, dass Mitarbeiter in 30 genauso produktiv sein können wie in 40 Stunden.

Und dazu erste Unternehmen, die deshalb die Viertagewoche für alle eingeführt haben, ohne Lohnkürzung. Die befragten Firmen kommen vorwiegend aus dem White-Collar-Bereich, also aus Marketing, Beratung oder Kanzleien. Die können unproduktive Arbeitszeit wie manches Meeting oder Gespräche an der Kaffeemaschine einsparen. Da wird die verkürzte Woche zur Win-win-Situation: mehr Freizeit für die Mitarbeiter bei gleichem Verdienst und ein Vorteil für den Arbeitgeber im Wettbewerb um Personal. Nur darf man nicht den Fehler machen und diese Studien auf die ganze Arbeitswelt beziehen.

Im Restaurant, in der Pflege oder beim Spargelstechen ist eine Viertagewoche schwerer vorstellbar.

Sicher, die Trennlinie verläuft klar zu Arbeitsfeldern in der Hand- und Herzarbeit, in denen man in weniger Zeit auch direkt weniger produziert. In diesen Jobs bedeutet geringere Arbeitszeit, wenn der Lohn für die Beschäftigten gleich bleiben soll, immer auch höhere Kosten für den Arbeitgeber. Das muss man bedenken. Und im Niedriglohnsektor fehlt natürlich meist auch der Puffer, um auf eigene Kosten weniger zu arbeiten.

Vollzeit oder Teilzeit?

Eva Müller-Foell und Felix Denk streiten

Ist eine Reduktion der Arbeitszeit. aus Arbeitnehmer*innen-Sicht überhaupt sinnvoll? Wir streiten.

Besteht durch den Personalmangel dennoch die Chance, dass sich die Arbeitsbedingungen in solchen Branchen von alleine verbessern?

Für die Breite glaube ich das nicht. Gerade im Niedriglohnsektor können oder wollen Arbeitgeber die Mehrkosten oft nicht hinnehmen. Die Arbeit dort ist leichter austauschbar, wenn es hier keiner machen will, werden eben Menschen von woanders angeworben. In der Vergangenheit sind immer wieder auch Unternehmen abgewandert, zum Beispiel in der Textilindustrie. Das lässt sich nur ändern, wenn die reduzierte Arbeitszeit gesetzgeberisch angeordnet und staatlich finanziell unterstützt würde.

Dabei wird gerade suggeriert, dass selbst eine Kindergrundsicherung nicht drin ist im Bundeshaushalt.

Spätestens seit dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr sollte allen klar sein, dass es Ressourcen gibt und es viel mehr eine Frage der Prioritäten ist. Ideen für zusätzliche Einnahmen liegen auch auf dem Tisch, zum Beispiel die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer oder eine wirksamere Erbschaftsteuer.

Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn die Entwicklung so weitergeht – wenn also die einen immer mehr Geld und Zeit haben und die anderen von beidem weniger?

Ein hohes Potenzial für gesellschaftliche Spaltung. Leute aus Ausbildungsberufen halten Akademiker*innen in Bürojobs ja jetzt schon für überbezahlte Wichtigtuer. Während umgekehrt viele mit Uniabschluss glauben, dass alles eine Frage des „Mindsets“ sei und sich die anderen nur mehr anstrengen müssten, wenn sie auch so leben wollen. Mit dem starken Zulauf der Universitäten in den vergangenen 30 Jahren hat die nichtakademische Mittelschicht enorm an Status verloren.

Sehen Sie trotzdem eine Chance, dass die Dreißigstundenwoche sich irgendwann für alle durchsetzt?

Ich habe da Hoffnung. Die Vierzigstundenwoche und der Achtstundentag mussten auch erst von Arbeitnehmer*innen erkämpft werden. Gerade können sich nur wenige mehr Zeit leisten. Das ist ungerecht. Aber dadurch kann eben auch eine Sehnsucht entstehen, die immer notwendig ist für sozialen Protest und Wandel.

„Wir brauchen ein allgemeines Bewusstsein, dass jede Art von Arbeit würdevoll ist, weil sie zum Gemeinwohl beiträgt“

Was können Menschen in sogenannten White-Collar-Jobs beitragen, um auch Leuten in Ausbildungsberufen mehr Zeit zu ermöglichen?

Sie können sich solidarisch verhalten. Ärzt*innen können zum Beispiel Pflegepersonal bei Streiks unterstützen, Rechtsanwält*innen ihre Fachangestellten anständig bezahlen. Es geht aber auch noch simpler: Man nimmt die Kopfhörer aus den Ohren, wenn man vor den Kassierer*innen am Kassenband steht. Wir brauchen ein allgemeines Bewusstsein, dass jede Art von Arbeit würdevoll ist, weil sie zum Gemeinwohl beiträgt. Akademische Abschlüsse spezialisieren und sind aufwendig, aber sie machen einen nicht zu einem besseren Menschen.

Würden Sie persönlich mit Ihrer Elterngeneration tauschen wollen – weniger Zeit, aber mehr Chance auf Wohlstand?

Nein, trotz aller ökonomischen Chancen von damals. Wenn man die heutigen Freiheiten erst mal kennt und mehr Zeit für die Familie, Freunde und Freizeit hat, will man das nicht hergeben. Außerdem bin ich überzeugt, dass wir zur Bekämpfung der Klimakrise ohnehin eine andere Haltung zu Konsum brauchen und Geld nicht länger das Entscheidende sein wird. Denn der ökonomische Aufstieg unserer Eltern hatte natürlich auch einen ökologischen Preis.

Titelbild: Kostis Fokas

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