Das polnische Abtreibungsrecht gehört zu den strengsten Europas. Schwangerschaftsabbrüche sind lediglich nach einer Vergewaltigung erlaubt, bei Inzest oder wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Eine weitere Ausnahme – die schwere Fehlbildung des Fötus – hat das polnische Verfassungsgericht am 22. Oktober 2020 verboten. Fast alle Juristen des Gerichts gelten als Anhänger der Regierungspartei PiS. Die Reaktion: Hunderttausende Menschen protestierten im ganzen Land. Der Fotograf Karol Grygoruk hat die Proteste im Zentrum Warschaus, die mehrere Wochen anhielten, begleitet.
Schwangerschaftsabbrüche waren in Polen schon vor dem Urteil streng geregelt. Vor einem Jahr strich das Verfassungsgericht auch die Möglichkeit, nicht überlebensfähige Föten legal abzutreiben. Die Begründung: Das Recht auf Leben beginne bereits mit der Empfängnis. Laut offiziellen Zahlen waren 2019 98 Prozent der 1.100 legalen Abbrüche im Land auf diese Ausnahme zurückzuführen. Schätzungen gehen davon aus, dass 2019 im Verborgenen tatsächlich sogar bis zu 200.000 Abtreibungen vorgenommen wurden.
Noch am Abend des Urteils rief die Bewegung „Frauenstreik“ zu Demonstrationen vor dem Verfassungsgericht in Warschau und in weiteren polnischen Städten auf. Ihr Slogan: „Wenn der Staat mich nicht schützt, werde ich meine Schwestern schützen“. Eine ihrer Initiatorinnen: Mola. Sie richtete einen Telegram-Kanal ein, der zur wichtigen Informationsquelle für die Demonstrierenden wurde.
Die Proteste hielten für einige Wochen an. Ende Oktober 2020 gingen allein in Warschau laut Schätzungen 100.000 Menschen auf die Straße. „Wir können nicht ewig protestieren“, sagt Mola. „Aber es bleibt ein Gefühl der Solidarität. Die Proteste waren historische Ereignisse.“ An vielen Orten in Polen sieht man seitdem – aufgemalt auf Plakate, Verkehrsschilder, Häuserwände, U-Bahnen – den roten Blitz, das Emblem des „Frauenstreiks“. Das Symbol geht auf den Warschauer Aufstand von 1944 zurück. PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński behauptet, die Proteste seien „ein Verbrechen“. Die Demonstrant:innen hätten „dem Polentum den Krieg erklärt“.
Laut Recherchen eines Journalistenbüros soll die Gesetzesverschärfung zum Teil auch auf die monatelange Lobbyarbeit von Ordo Iuris zurückzuführen sein. Der christlich-fundamentalistische Thinktank geriert sich als Verteidiger der Menschenrechte und wird zunehmend einflussreicher in Polen. Schon 2016 wollte Ordo Iuris ein Gesetz einführen, das Ärzte, die Abtreibungen durchführen, abschrecken sollte und Gefängnisstrafen für illegal abtreibende Mütter vorsah.
Dieses Jahr wurde bekannt, dass Ordo Iuris einen weiteren Gesetzentwurf initiiert hat: „Ja zur Familie, nein zur Gender-Ideologie“ fordert Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention, einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der Frauen vor häuslicher Gewalt schützen soll. Auch die einflussreiche katholische Kirche und die rechtskonservative polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sehen die Konvention kritisch; sie wittern eine versteckte „Gender-Agenda“. Seit März 2021 bereitet Polen seinen Austritt aus der Istanbul-Konvention vor.
Auf diese Ankündigung gab es neuerliche Demonstrationen im Land – die immer mehr zu einer Bewegung gegen die PiS-Regierung werden. Sie hat seit 2015 eine klare Mehrheit im polnischen Parlament und macht immer wieder mit antifeministischer und queerfeindlicher Rhetorik Politik: Sexualkunde fördere angeblich die „sexuelle Verderbtheit und den moralischen Verfall“, und der Schutz queerer Personen zwänge der Mehrheitsgesellschaft aggressiv eine „LGBT-Ideologie“ auf. Die Regierung versuchte, die Proteste im Oktober 2020 zu verhindern, und wollte durch Festnahmen, Gerichtsverfahren und Geldstrafen Druck auf die Demonstrierenden ausüben.
Ein Großteil der Bevölkerung teilt das Gesellschaftsbild von Kirche und PiS: Polen ist ein konservatives Land; Abtreibungen zu entstigmatisieren ist dementsprechend schwer. Nur ein paar linke Kleinparteien unterstützen die Forderung nach einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Die großen Oppositionsparteien im Land stellen sich zwar demonstrativ hinter den Frauenstreik, fordern aber zumeist lediglich eine Rückkehr zur Gesetzeslage vor der jüngsten Verschärfung.
Vielen Demonstrierenden erscheint die Unterstützung der Opposition daher nicht mehr als ein Wahlkampfmanöver gegen die PiS. Sie setzen weiter auf zivilen Widerstand gegen das Gesetz – trotz der Corona-Pandemie und teils starker Polizeipräsenz. Seit Oktober 2020 wurden immer wieder Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen. Auch Mola wurde zwischenzeitlich verhaftet – offiziell wegen eines Verstoßes gegen die Corona-Ausgangssperre.
Abgetrieben wird weiterhin: Viele Polinnen nehmen die „Pille danach“ – dabei ist die für Frühschwangerschaften und nur auf Rezept erhältlich. Initiativen wie das Netzwerk „Aborcja bez granic“ („Abtreibung ohne Grenzen“) wollen Frauen aufklären. Während der Proteste wurden die Telefonnummern solcher Organisationen im ganzen Land auf Kirchen- und Häuserwände gesprüht. Wer die Nummern wählt, bekommt Rat von Frauenrechtlern, Anwälten, Medizinern, die im Notfall auch Auslandsreisen für eine Abtreibung organisieren. Neben den Niederlanden und Tschechien suchen sich Polinnen vor allem in Deutschland Hilfe. Einige Kliniken in Grenznähe bieten Beratungen auf Polnisch und Abtreibungen bis zur zwölften Woche an.
Mit dem Protest befasst sich inzwischen auch die Europäische Union: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erhielt bisher mehr als 1.000 Beschwerden gegen das verschärfte Abtreibungsrecht. Selbst wenn der Gerichtshof das Urteil als verfassungswidrig einschätzt, bleibt die Frage, ob Polens Regierung das europäische Recht als übergeordnet anerkennt. Diesen Sommer ist die EU bereits gegen die von der PiS eingesetzte Disziplinarkammer am Höchstgericht vorgegangen, die die Unabhängigkeit der polnischen Justiz gefährdet sieht und somit gegen EU-Recht verstößt. Polen zeigte sich vorerst zumindest gesprächsbereit, ignorierte aber die Forderungen, die Disziplinarkammer stillzulegen. Nun hat das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass einige EU-Gesetze nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind.