Thema – Flucht

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So ist es, ich zu sein: Abschiebebeobachterin

„Vor mir standen schon Menschen nur im Bademantel“, sagt Marie (30). Sie arbeitet seit zwei Jahren am Flughafen Berlin Brandenburg

Marie am Flughafen

„Schon während des Studiums habe ich gemerkt, dass ich im Bereich Flüchtlingsschutz arbeiten will. Also habe ich Praktika beim Leipziger Flüchtlingsrat, beim Deutschen Institut für Menschenrechte und bei einer Seenotrettungsorganisation gemacht. Als ich im Sommer 2020 in Serbien an der EU-Außengrenze war, um dort Geflüchtete zu unterstützen, kam die Einladung zum Vorstellungsgespräch bei der Caritas für das Erzbistum Berlin. Seit Anfang 2021 arbeite ich dort als Abschiebebeobachterin, inzwischen in Vollzeit.

Am Flughafen Berlin Brandenburg (BER) achte ich darauf, dass Abschiebungen entsprechend den gesetzlichen Vorgaben durchgeführt werden. Die tatsächliche Beobachtung der Abschiebungen macht aber nur 50 Prozent meines Jobs aus: Die andere Hälfte verbringe ich mit Büro- und Netzwerkarbeit, Fortbildungen und Supervision.

Ich schaue mir die geplanten Maßnahmen, so nennen wir die Abschiebungen, an und wäge ab: Bei welchen Fällen erwarte ich Konflikte? 

Meine Arbeitszeiten sind nicht langfristig planbar, ich weiß nie, was in den nächsten Tagen genau passiert. Bei Einzelabschiebungen, die am BER zwischen 6 und 20 Uhr stattfinden, bin ich circa drei Stunden vorher am Flughafen, bei Sammelabschiebungen zwischen vier und sechs Stunden vorher. In der Regel bin ich dann drei bis vier Stunden vor Ort, fallen aber viele Maßnahmen auf einen Tag, können es auch schon einmal zehn Stunden sein. Wann welche Abschiebungen anstehen, erfahre ich erst ein paar Tage vorher. Ich schaue mir die geplanten Maßnahmen, so nennen wir die Abschiebungen, an und wäge ab: Bei welchen Fällen erwarte ich Konflikte? Wo könnten körperliche Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden? Konflikte entstehen häufig dann, wenn es um Familientrennungen geht, weniger, wenn Menschen in ein Land wie Österreich abgeschoben werden, das nicht für menschenunwürdige Lebensumstände bekannt ist. Zu welchen Abschiebungen ich gehe, entscheide ich komplett eigenständig. 

Meistens begleite ich zwei bis drei Sammelabschiebungen pro Monat, das kann zwischen 40 und 70 Menschen betreffen. Ein- bis zweimal die Woche versuche ich dabei zu sein, wenn Einzelpersonen abgeschoben werden. 2022 wurden 1.424 Menschen vom BER abgeschoben. 

Wenn die Landespolizei die Personen an die Bundespolizei übergibt, fange ich an zu beobachten, notiere mir Dinge und suche das Gespräch mit den Betroffenen: Hat die Person die Möglichkeit zu kommunizieren? Sind Dolmetscher:innen zugegen? Hat die Person Gepäck und Geld dabei? Hat sie Klamotten an? Hat sie Zugang zu einem Handy? Ich habe es schon erlebt, dass Menschen nur im Bademantel vor mir standen oder Kinder zum Dolmetschen eingesetzt wurden. Bei Einzelmaßnahmen sind nämlich keine Dolmetscher:innen anwesend.

Glaube ich, dass etwas gegen Standards im Abschiebungsvollzug oder Grund- und Menschenrechte verstößt, melde ich das vor Ort der Einsatzleitung der Polizei

Wenn Menschen gefesselt, in Handschellen, Klett- oder Stahlfesseln, am Flughafen ankommen, versuche ich mir ein Bild zu machen: Ich frage die Personen, was passiert ist, und hole mir die Sicht der Polizei ein. Ich habe bisher keine Zwangsmaßnahmen der Bundespolizei beobachtet, die meines Erachtens gegen das Gesetz verstoßen haben. Doch wenn Beamt:innen Menschen trotz körperlichem Widerstand am Boden halten, ihnen einen Festhaltegurt anlegen oder sie gegen ihren Willen ins Flugzeug tragen – dann sind das gewaltvolle Maßnahmen. 

Glaube ich, dass etwas gegen Standards im Abschiebungsvollzug oder Grund- und Menschenrechte, zum Beispiel das Grundrecht auf Freiheit, die körperliche Unversehrtheit oder das Kindeswohl, verstößt, melde ich das vor Ort der Einsatzleitung der Polizei. Wir sind zwar nicht immer einer Meinung, inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass das, was ich mache, respektiert wird. Manchmal gibt es trotzdem Situationen, in denen mir Beteiligte direkt sagen, dass sie nicht mit mir reden werden. Es gab zum Beispiel mal einen Arzt, der mir keine Auskünfte geben wollte, obwohl die Betroffene vorher zugestimmt hatte. Dabei ist es wichtig, dass ich diese Infos bekomme – denn benötigt eine Person akute medizinische Hilfe oder ist hochschwanger, ist es meine Aufgabe, auf mögliche medizinische Gefahren hinzuweisen, die eine Abschiebung dann haben könnte.

Nachdem ich eine Abschiebung beobachtet habe, muss ich alles dokumentieren und an das „Forum Abschiebebeobachtung Berlin-Brandenburg“ berichten, das aus Akteur:innen staatlicher sowie nichtstaatlicher Organisationen besteht. Da sind Wohlfahrtsverbände und die Bundespolizei ebenso vertreten wie die Ausländerbehörden der Länder Berlin und Brandenburg. Außerdem sitzen kirchliche Vertretungen, Pro Asyl und Amnesty International mit am Tisch. Die Sitzungen sind drei- bis viermal im Jahr. Hat das Forum etwas zu beanstanden, stellen wir Anfragen an Behörden und bitten um Erklärung für fragwürdige Verfahrensweisen. Außerdem geht es darum, Beanstandungen entsprechend weiterzugeben, sodass die, die am Abschiebeverfahren beteiligt sind, miteinbezogen werden.

Neben der Polizei können zum Beispiel Mediziner:innen, Gerichte oder Ausländerbehörden Abschiebungen stoppen. Es kann auch passieren, dass eine Abschiebung abgebrochen wird, weil Personen Widerstand leisten

Ich kann eine Abschiebung aber nicht rückgängig machen oder stoppen. Als Abschiebebeobachterin soll ich gewährleisten, dass jemand von nichtstaatlicher Seite dabei ist, der für Betroffene als Ansprechpartnerin vor Ort ist und genau hinschaut, sodass keine oder zumindest wenige Fehler bei Abschiebungen passieren. Ich habe gelernt, dass meine Arbeit durchaus einen Unterschied machen kann. Das motiviert mich, diesen Job zu machen: Betroffenen Beistand leisten, einen Einblick in die Arbeit von Behörden zu bekommen und zu sehen, welche praktischen Auswirkungen Migrationsabkommen oder Verschärfungen von Abschieberegelungen auf die Menschen haben. 

Auch wenn die Macht vor Ort bei der Polizei liegt: Neben ihr können Mediziner:innen, Gerichte, Ausländerbehörden oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Abschiebungen stoppen. Es kann auch passieren, dass eine Abschiebung abgebrochen wird, weil Personen Widerstand leisten.

Einige Fälle bringen mich länger zum Nachdenken. Einmal hat ein Mann kurz vor dem Flug auf dem Rollfeld seine Dokumente zerrissen. Er hatte wohl Angst, dass ihm im Iran Konsequenzen drohen könnten, wenn man ihn identifiziert. Ein anderes Mal wurde eine Mutter mit ihren zwei Kindern in den Westbalkan abgeschoben. Der Vater blieb in Deutschland. Eines der Kinder erzählte mir von seiner deutschen Schule, dann hat der Junge mit seinem Vater telefoniert und dabei geweint. Als er sich von mir verabschiedet hat, hätte ich am liebsten auch geweint. 

In Deutschland wird aktuell von 14 Flughäfen abgeschoben – es gibt jedoch nur an fünf Standorten Abschiebebeobachter:innen: in Nordrhein-Westfalen für Köln/Bonn und Düsseldorf, in Hamburg, Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin/Brandenburg. Aktuell gibt es sieben Abschiebebeobachter:innen in Deutschland – das ist, finde ich, zu wenig. 

Es gibt Tage, da renne ich von Person zu Person und habe am Ende trotzdem nicht das Gefühl, dass ich meinen Job richtig gemacht habe

Es wäre wichtig, dass mehr Stellen geschaffen werden, damit unabhängige Personen die von der Landes- und Bundespolizei durchgeführten Abschiebungen begleiten und sich mit den staatlichen Stellen austauschen können. Außerdem sollten die Beobachtungen schon da anfangen, wo die Menschen abgeholt werden. Seit 2008 wird durch eine EU-Richtlinie von den Staaten ein Rückführungsmonitoring gefordert, das in Deutschland aber bislang nicht in nationales Recht überführt wurde. Damit gibt es keine rechtliche Grundlage, die meinen Job legitimiert. Bisher werden die Stellen durch die Bundesländer sowie Gelder von Diakonie und Caritas finanziert. 

Meine Tätigkeit stößt zwangsläufig an Grenzen. Ich allein kann nicht innerhalb weniger Stunden alle Details aufnehmen und alles beobachten, was bei einer Abschiebung am Flughafen vor sich geht. Es gibt Tage, da renne ich von Person zu Person und habe am Ende trotzdem nicht das Gefühl, dass ich meinen Job richtig gemacht habe. Dann frage ich mich: Hätte ich noch mehr tun können? War meine Einschätzung richtig? Dann fühle ich mich manchmal hilflos, bin wütend.

Mit der Zeit lernt man aber, Distanz zu dem Job aufzubauen. Sonst kann man das nicht machen. Ich freue mich nicht, wenn ich zu einer Abschiebung fahre. Wenn ich anschließend nach Hause komme, ein Nickerchen mache oder eine Runde mit meinem Hund spazieren gehe, komme ich mir schon manchmal komisch vor.“

Titelbild: Lina Czerny

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