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Justice

Gerichte in den USA und Großbritannien verwenden Lyrics als Beweismittel. Das betrifft fast ausschließlich Rap-Texte

  • 6 Min.
Goldkettenillustration von Sebastian Haslauer

„I never killed anybody but I got somethin’ to do with that body.“ Er habe niemanden umgebracht, aber etwas mit der Leiche zu tun, rappt Young Thug in „Anybody“ mit Nicki Minaj. Ist das ein Geständnis?

2015, drei Jahre vor dem Release des Songs, gab es einen Mord. Zwei Rapper seines Labels Young Slime Life Records (YSL) stehen im Verdacht. Young Thug soll davon gewusst haben, denn YSL sei in Wahrheit eine Gang, heißt es in einer Anklage gegen ihn und mehr als zwei Dutzend andere, die mit dem Label in Verbindung stehen. Und Young Thug sei der Anführer. Davon rappe er schließlich, sagt die Staatsanwaltschaft. „I told them to shoot a hundred rounds“, heißt es an anderer Stelle in „Anybody“. Ich habe ihnen befohlen, hundert Magazine leer zu schießen.

Die Aufklärung des Mordes ist schwierig für die Ermittler: Es gibt weder klare Spuren noch verlässliche Zeugen. Deshalb greift die Staatsanwaltschaft zu mehreren Kniffen.

Sie beantragt zum einen, dass vor Gericht Rap-Zeilen verlesen werden, die meisten stammen von Young Thug. Zum anderen will sie beweisen, dass YSL eine kriminelle Gang ist, und beruft sich dafür auf das sogenannte RICO-Gesetz. Das wurde in den 1970er-Jahren erlassen, um kriminelle Organisationen zu zerschlagen. Würde das Gericht YSL gemäß dem RICO-Gesetz zur Gang erklären, könnte es Angeklagte für jeglichen Beitrag zum Label verurteilen, selbst wenn sie nicht nachweislich an Straftaten beteiligt waren.

Bei Bob Marley würde niemand glauben, dass er wirklich einen Sheriff erschossen hat

In solchen Fällen seien Musiktexte in den USA nicht unbedingt von der Kunstfreiheit gedeckt, dem sogenannten First Amendment, sagt Charis Kubrin. Sie ist Professorin für Kriminologie an der University of California, Irvine. Kubrin hat an einem Leitfaden mitgearbeitet, der Anwälten helfen soll, wenn Staatsanwaltschaften Rap-Zeilen vor Gericht verlesen lassen wollen. „Tatsächlich kommt es fast nur in Verbindung mit Rap vor, dass Lyrik als Beweis eingebracht wird“, sagt Kubrin.

Bob Marley hat nie einen Sheriff erschossen, Johnny Cash nie einen Mann in Reno. Foster the People sind nie Amok gelaufen, und David Bowie war nie im Weltall. Brutale, verstörende, hasserfüllte oder schlicht fantastische Zeilen sind in Reggae, Country, Rock, in eigentlich allen Musikrichtungen zu finden. Nur sehr selten werden diese Texte vor US-Gerichten verlesen.

Bei Rap ist das anders. Das Forschungsprojekt Rap on Trial berichtet von fast 700 Prozessen, in denen Rap-Texte herangezogen wurden.

Auch in Großbritannien hat sich die Praxis etabliert: UK-Drill-Rapper erzählen oft und explizit davon, wie Mitglieder verfeindeter Gangs abgeknallt oder mit dem Messer entstellt werden. Die britische Justiz geht hart gegen die Szene vor: Musikvideos werden gesperrt, mancher Künstler muss seine Songs vor Veröffentlichung der Polizei vorlegen, und seit ein paar Jahren sind Texte und Musikvideos vor Gericht als Beweismaterial zugelassen. Das ist auch in Deutschland möglich, kommt aber äußerst selten vor, weil das Grundgesetz die Kunstfreiheit schützt.

Als Young Thug 2022 auf der Anklagebank Platz nimmt, ist er ein Star mit Nummer-eins-Alben und Grammy Award. Selten sind die Angeklagten so bekannt, heißt es im Forschungsband „Rap on Trial“. Meist seien es Amateure, denen Zeilen zum Verhängnis werden, die sie von bekannten Rappern kopieren und umdichten.

Es geht auch um Rassismus

Wenn es um schwere Straftaten wie Gewaltverbrechen geht, entscheidet in den USA meist eine Jury über Schuld oder Nichtschuld. In der sitzen mehrere Geschworene, ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Einige Staatsanwaltschaften sähen Rap-Zeilen als Abkürzung zu einem Schuldspruch, sagt Kubrin: Damit ließen sich hervorragend Vorurteile aktivieren. Bestimmte Rap-Stile wie Gangsta-Rap würden in der Popkultur und von Nachrichtenmedien seit Jahrzehnten dämonisiert.

Zur Wahrheit gehöre aber auch der Rassismus, sagt Kubrin: „Wir wissen, dass es eine Rolle spielt, welcher Ethnie jemand angehört.“ Laut „Rap on Trial“ waren nur in ein bis zwei Prozent der Fälle, in denen Rap-Zeilen als Beweisstück verlesen wurden, die Angeklagten weiß. In allen übrigen soll es sich um Schwarze oder Latinos gehandelt haben.

„Eine Eigenheit des Rap ist, dass er so tut, als sei er authentisch“, sagt Kubrin. Was musikalische Fiktion ist und was autobiografische Realität, steht hier eher infrage als bei anderen Genres. Wegen dieser Konvention, wegen der vielen Inszenierungen von Kriminalität im Rap und wegen der Nähe, die Rap und Kriminalität seit jeher haben. Das heiße aber natürlich nicht, dass das in den Texten Geschilderte wirklich passiert sei, sagt Kubrin.

Viele Angeklagte gingen davon aus, sie bräuchten nur eine Chance, sich vor Gericht zu erklären, heißt es in „Rap on Trial“. Unter dem Druck der gezielten Fragen von Staatsanwälten würden sich dabei aber manche in Rechtfertigungen verstricken oder ganz die Nerven verlieren. So wirkten sie schnell krimineller, als sie sind, und stünden vor der Jury schlecht da. Ein Problem, das nicht nur angeklagte Rapperinnen und Rapper betrifft.

Kubrin hat selbst ein Experiment unternommen, um Vorurteile gegen Rapmusik aufzuzeigen. Sie gab mehr als 500 Personen einen Liedtext: immer dieselben Zeilen, geschrieben vor mehr als 60 Jahren vom Kingston Trio. Einer Folkband.

Well, early one evening
I was rollin’ around,
I was feelin’ kind of mean,
I shot a deputy down.

Mal sagte Kubrin, die Zeilen würden aus einem Countrysong stammen, mal aus Heavy Metal oder Rap. Sie stellte fest: Die Hörerinnen und Hörer, die dachten, sie hätten Rap-Zeilen vor sich, gaben mit höherer Wahrscheinlichkeit an, wer so etwas schreibe, sei in einer Gang, vorbestraft oder kriminell.

Kubrins Forschung und die jahrelange Arbeit von „Rap on Trial“ haben mit dazu geführt, dass das Problem auch politisch angegangen wird. In Kalifornien wurde 2022 das Gesetz geändert. Bei Strafverfahren, in denen kreative Ausdrucksformen wie Songtexte als Beweismittel zitiert werden, sollen die Gerichte seither erst mal davon ausgehen, dass in den Kreationen kaum wörtliche Wahrheit steckt. Außerdem bescheinigt das Gesetz speziell dem Rap „ein erhebliches Risiko unfairer Vorurteile“. Es sei das erste Gesetz in den USA, das die Verwendung von Rap-Texten als Beweismittel beschränkt, sagt Kubrin.

Dieser Text ist im fluter Nr. 93 „Rap“ erschienen

In Georgia, wo der Prozess gegen Young Thug verhandelt wurde, ist die Praxis weiterhin erlaubt. In seinem Prozess wurden 17 Zeilen verlesen. Sie erzählen vom Drogenkochen und Schießereien, sprechen Beschimpfungen gegen die Polizei und Drohungen aus. Nach monatelangen Verhandlungen fehlten allerdings die Beweise, um ihn klar mit einer Gewalttat in Verbindung zu bringen.

Ende Oktober 2024 ließ sich Young Thug auf einen „Plea Deal“ ein: Er gestand einige vergleichsweise kleine Vergehen. Und bestritt nicht, dass sein Label eine Gang gewesen sei, deren Kopf er war. Das kam einem Schuldeingeständnis gleich. Dafür wurden andere Vorwürfe gestrichen. Nach zwei Jahren in Untersuchungshaft ist Young Thug frei – aber nun für 15 Jahre auf Bewährung.

Illustration: Sebastian Haslauer

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.