Russland
Face mit langen Haaren, riesiger Sonnenbrille und Gesichtstattoos androgyn in einer Limousine. Face, wie er im Einkaufswagen mit Freunden durch ein Möbelhaus cruist. Zwischen 2017 und 2018 hatte der Rapper seinen ersten Hype in Russland. Damals war der Rap dort so offen wie nie. Face rappte von Sex, Geld und Fashion, brach aber auch mit traditionellen Männlichkeitsbildern, machte sich über den russischen Patriotismus und den Style US-amerikanischer Trap-Rapper lustig.
Von der damaligen Unbeschwertheit, von Face als Meme-Rapper, ist wenig übrig. Immer wieder äußert er Kritik am russischen Staat und an dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine. 2022 wird er als erster Musiker zum ausländischen Agenten erklärt. Der Status gilt als Instrument des Justizministeriums, um die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Laut dem Kreml schütze er Russland vor ausländischer Einmischung. Face löscht seine Musik von russischen Musikplattformen und verlässt das Land.
Seinen Stil hat das verändert. Ironische Witze sind Balladen gewichen, auf denen er Panik, Depressionen und den Verlust seiner Heimat verarbeitet. „Ich habe russisches Blut und auch ukrainisches Blut / Deshalb hasse ich mich selbst, und es ist schwierig für mich“, rappt er auf seinem neuesten Album.
Johann Voigt
Ghana
Nicht lang her, da hätten Charterfolge afrikanischer Acts in Europa für Schlagzeilen gesorgt. Heute füllen Tems, Wizkid oder Burna Boy hier selbstverständlich die Konzerthallen, Major-Labels eröffnen Ableger in Westafrika, und die Streaminganbieter hecheln mit Playlists den Trends nach, die Musikerinnen und Musiker aus Afrika setzen.
Afrobeats sei Dank. Das ist weniger ein einheitlicher Stil als ein Sammelbegriff, der kurioserweise in Großbritannien entstand: Partygänger mit nigerianischen und ghanaischen Wurzeln brauchten ein Label für den Pop ihrer Herkunftsländer, der moderne, polierte Sounds mit komplexen afrikanischen Rhythmen zusammenbrachte.
Wie das klingt, hört man bei Amaarae. Aufgewachsen zwischen der ghanaischen Hauptstadt Accra, New York und Atlanta, mischt die Rapperin 90er-Rock und US-Pop mit klassischem und modernem Afropop. Viele Songs („Sad Girlz Luv Money“!) sind so tanzbar, als wären sie für TikTok geschrieben.
Bei Amaarae verschmelzen die Genres wie die Themen: Mit klarer, oft fast hauchender Stimme rappt sie über gute Autos und schlechten Sex, alten Cognac und neue Rollenbilder, Geld und Freiheit, Spaß und Selbstbestimmung, gern auch über alles innerhalb weniger Lines. „I don’t make songs, bitch, I make memories“, verspricht sie in „Hellz Angel“ und legt direkt doubletime nach: „I don’t like thongs, ’cause they ride up in jeans.“
Victor Efevberha
Philippinen
In den meisten Ländern Südostasiens ist Rap erst seit ein paar Jahren in den Charts. Er hat als US-Importprodukt nicht die Entwicklung von der Straße zu Hochglanz gemacht, sondern ist direkt mit dem großen Flex eingestiegen: Die Klamotten, Sportwagen, Gesten und Lines kennt man von Nullachtfünfzehn-US-Rappern ... wären da nicht JMara und seine Crew Morobeats, die die muslimische Minderheit auf den Philippinen representen.
Statt stoisch mit Designerbrillen zu posieren, stapft JMara mit halb wahnsinnigem Blick und ohne Shirt durch vermüllte Armenviertel. Man checkt: Der hat etwas zu sagen. Man muss kein Tagalog sprechen, um Songs wie „Mahal Kong Pilipinas“ („Meine geliebten Philippinen“) zu fühlen. Auch weil Jmaras Stimme aus Gold ist: Auf den Philippinen, wo Karaoke wie ein Volkssport betrieben wird, sind viele Rapper auch Gesangstalente. Mal ergreifend, mal wütend berichtet JMara vom Elend, das seine Leute ertragen. Hier ist Hustle, jeden Tag. Die Sandalen fallen auseinander, die Mahlzeiten aus, viele haben kein Dach über dem Kopf. JMara liebt seine Heimat, aber: „Mahal mo ba ako?“ Liebst du mich auch?
Nikita Vaillant
Australien
Mai 2020. Überall auf der Welt demonstrieren Menschen nach dem Mord an George Floyd gegen Rassismus und Polizeigewalt. In Australien trägt eine Zeile die Protestwelle: „Why my people gotta die?“ Warum müssen meine Leute sterben?, fragt die Rapperin Barkaa in ihrem Song „Our Lives Matter“. Chloe Quayle, wie Barkaa bürgerlich heißt, wächst als Tochter einer alleinerziehenden Barkindji auf: Der Stamm zählt zu den indigenen Völkern Australiens.
Als Jugendliche ist Barkaa Meth-abhängig und sitzt mehrfach in Haft. Ihr drittes Kind, das sie im Knast zur Welt bringt, kommt sofort nach der Geburt in eine Pflegefamilie. Ein Wendepunkt für Barkaa. Schon zu Schulzeiten war Rap ein Ventil für ihre Wut, jetzt macht sie Rap zum Beruf. Barkaa flowt monströs, ihre Sounds sind düster, die Texte kraftvoll, in ihren Musikvideos sind traditionelle Kleider und Farben der Barkindji zu sehen. Die sind ein Matriarchat, seit jeher hatte Barkaa starke weibliche Vorbilder. Diese Tradition führt sie fort: Ihre älteste Tochter steht regelmäßig mit ihr auf der Bühne.
Katharina Schulz
Indien
Die Rap-Szene in Indien wächst und mit ihr auch viele Rapperinnen, denen allerdings oft die Plattform fehlt. Wie gut, dass es WWW gibt – nicht das World Wide Web, sondern die Wild Wild Women. Die fünf MCs, eine Graffitikünstlerin und zwei Breakdancerinnen sind das erste komplett weibliche Hip-Hop-Kollektiv Indiens. Es will nicht weniger als gesellschaftliche Konventionen aufbrechen: In Indien werden Mädchen und Frauen massiv benachteiligt und unterdrückt, sexualisierte Gewalt, Zwangsehen und Entführungen sind alltäglich.
Wild Wild Women rappen wütend, aber immer im Flow über Empowerment, Sisterhood, mentale Gesundheit und die täglichen Kämpfe, die viele Frauen in dieser patriarchalischen Gesellschaft bestehen müssen: „The need of the hour, We’re gonna live to empower. Rise up for what you believe, turning the tables, this is girl power, can’t you see?“
Die Crew wollte die westliche Hip-Hop-Kultur nicht einfach übernehmen. Also wird auf Englisch, Hindi, Marathi und Tamil gerappt und manchmal in traditionellen Saris.
Julia Belzig
China
Rap schwappt seit den 1990er-Jahren aus den USA nach China, der Durchbruch kam aber erst 2017: Die Fernsehshow „The Rap of China“ war eine Art chinesisches „The Voice“, so gut und so neu, dass sie mehr als zweieinhalb Milliarden Mal gestreamt wurde und Rap innerhalb kürzester Zeit zur Musik des Mainstreams machte. Das ging der chinesischen Medienbehörde zu schnell. 2018 verbot sie Rap, der nicht auf Parteilinie liegt.
Wer heute öffentlich in China rappen will, muss seine Lyrics vor dem Upload von einer künstlichen Intelligenz prüfen lassen. Sex, Drogen und Gewalt, groß inszenierte Tattoos und dekadentes Verhalten, vulgäre oder politische Texte: alles verboten. Ehemals regimekritische und am US-Rap orientierte Acts wie die Higher Brothers rappten plötzlich patriotisch. Aber auch in China floriert ein Untergrund, der seine Songs an den Uploadfiltern vorbeischmuggelt – verpackt in Metaphern oder ähnlich klingenden Worten. Chinesischer Rap wird vielfältiger und bleibt eines der beliebtesten Musikgenres der Gen Z – trotz der massiven Einschnitte in die Meinungsfreiheit.
Katharina Schulz
Puerto Rico
Lisa, Patricia, Alejandra, Valeria … Young Miko liebt viele Frauen, auf ihrem Song „Lisa“ listet sie sie auf. Typisch Rap, nur gibt es die Zeilen über Sex und schöne Frauen hier ohne den üblichen Chauvinismus.
Young Miko kommt aus Puerto Rico. Auf der Karibikinsel, die zu den USA gehört, waren homosexuelle Handlungen bis 2003 strafbar. Queere Menschen leben immer noch gefährlich: 2019 wurde Kevin Fret ermordet, der als erster offen schwuler Trap-Rapper Puerto Ricos gilt, 2020 die trans Frau Alexa Negrón Luciano. Es folgte eine Debatte, der Rap viel zu geben hat. Zum Beispiel Vorbilder mit reichlich Selbstbewusstsein: „Dein Papa zahlt für meine OP“, rappt Villano Antillano auf „Vendetta“, einem Song mit Young Miko. Rap war immer auch die Kunst der kreativen Beleidigung. Nur geht es dabei noch selten um Transidentität.
Young Miko ist inzwischen ein Star: Ihr Album „att.“, das Rap, Pop und Reggaeton lässig durcheinanderwirft, wurde millionenfach gestreamt.
Mathis Raabe
Iran
„Da draußen protestieren Kids, die sind 12, 13 Jahre alt. Wovor hast du Angst?“, fragt Toomaj Salehi seine Fans. Herbst 2022, Hunderttausende Iranerinnen und Iraner gehen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auf die Straßen. Die 22-Jährige war festgenom men worden, weil sie aus Sicht der Sittenpolizei ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Auf der Polizeistation fiel sie unter unklaren Umständen ins Koma und starb wenige Tage später.
Toomaj läuft bei den „Jin, Jiyan, Azadî“-(Frau, Leben, Freiheit)-Protesten an vorderster Front. Seit Jahren prangert der Rapper in Songs die Korruption des iranischen Regimes und die Willkür der Sittenpolizei an, die in der Islamischen Republik die Einhaltung der Scharia überwacht. Im Frühjahr 2024 wird er wegen Aufrufs zur Rebellion und „Korruption auf Erden“ verhaftet und zum Tode verurteilt.
Das Urteil ist mittlerweile aufgehoben, Anfang Dezember 2024 wurde Toomaj nach Monaten in Haft freigelassen. Im autoritären Iran, wo Frauen in der Öffentlichkeit nicht singen dürfen, haben sich in den vergangenen Jahren auch Rapperinnen gegen das Regime gestellt. Viele haben das Land verlassen, so wie Justina oder Salome MC. Andere bleiben und rappen im Untergrund weiter.
Teseo La Marca
Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 „Rap” erschienen.
Das ganze Heft findet ihr hier.